Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
getreten ist (Lown 2004). Er macht geltend, dass eine sorgfältige Gesprächsführung und vor allem die Zuwendung zum Patienten als Person zur Heilung ebenso viel beitragen wie alle technischen Verfahren. Ausdrücklich warnt Lown davor, dass die Konzentration auf die Apparatemedizin, ökonomischer Druck und überbordende Administration sich zu einer Gefährdung der ärztlichen Aufgabe summieren. Damit wendet er sich von einem rein naturwissenschaftlichen Verständnis der Medizin ab und knüpft unausgesprochen an Denkweisen an, wie sie in Deutschland in der psychosomatischen Medizin Viktor von Weizsäckers und seiner Schule entwickelt wurden. Hier wird der Patient nicht nur in dem Sinn als Subjekt wahrgenommen, dass seine Krankengeschichte rekapituliert wird, vielmehr bedeutet Arbeit an der Biographie auch, «ungelebtes Leben als das Wirksame, Unmögliches als das Wirkliche zu erkennen». In diesem die Zukunft einschließenden Sinn trägt jede Krankheit einen lebensgeschichtlichen Charakter und muss deshalb auch biographisch verstanden werden (Weizsäcker 2005: 281, 289). Daraus entwickelt Viktor von Weizsäcker das Konzept einer «biographischen Medizin», die den Zusammenhang von Krankheit und Lebensschicksal in den Blick nimmt; zu ihm gehört die «Auseinandersetzung eines Menschen mit der Einmaligkeit seines Lebens, also mit seinem individuellen Tode» (Weizsäcker 2008: 243). Eine so verstandene patientenzentrierte Wendung des ärztlichen Handelns – bis hin zur Gestaltung der Visite im Krankenhaus – zielt auf weit mehr als nur auf die informierte Zustimmung des Patienten zu den nächsten Behandlungsschritten, nämlich auf das Verständnis der Krankheit als Teil seiner Lebensgeschichte (Janz 2003: 48).
Medizinischer Fortschritt und personalisierte Medizin
Viktor von Weizsäckers Vorschlag, das Subjekt in die Medizin einzuführen (Weizsäcker 1986: 279; 1997: 295ff.), ist nicht zu verwechseln mit der Tendenz zu einer sogenannten personalisierten Medizin. Diese ist von der Erwartung bestimmt, dass die Sequenzierung des menschlichen Genomsin absehbarer Zeit als Routine-Instrument der medizinischen Diagnostik Verwendung finden wird. Krankheiten können dann mit viel größerer Differenzierung bestimmt und die therapeutischen Mittel entsprechend präzise ausgewählt werden (Ciechanover 2011).
Die neuen Möglichkeiten der personalisierten Medizin bergen jedoch auch neue Probleme in sich. Wem werden die Informationen aus der Genomsequenzierung zugänglich gemacht und wie können sie vor illegitimem Zugriff und Missbrauch geschützt werden? Wie wird das Recht des Patienten auf Nichtwissen gewahrt? Noch gravierender als solche Fragen ist die Tendenz zu einer genetischen Reduktion des Menschenbildes. Der Begriff der personalisierten Medizin verleitet zu dem Irrtum, man komme der menschlichen Person dann in einem umfassenden Sinn auf die Spur, wenn man das Genom eines Menschen sequenziert hat. Doch der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene, die Person ist Natur und Geschichte. Genetische Dispositionen für eine Erkrankung sind nicht identisch mit den vielfältigen Gründen in Biographie, Lebensstil, Umwelt- und Gesundheitsbedingungen, die zum Ausbruch einer Krankheit und ihrer konkreten Gestalt beitragen. Auch neue Fragen nach dem Gesundheitsbudget werden sich stellen, denn individualisierte Therapien werden die Kosten in die Höhe treiben. So melden sich manche Vorbehalte gegen den enthusiastischen Ausruf des Nobelpreisträgers Aaron Ciechanover, mit der personalisierten Medizin gingen wir einem «wunderbaren Zeitalter» entgegen.
Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
Übertrieben scheint auch die Erwartung zu sein, mit der personalisierten Medizin erfülle sich der Traum, der Mensch könne alle Krankheiten hinter sich lassen. Optimistische Verfechter der personalisierten Medizin bezeichnen die Erfüllung dieses Traums als das Ziel ihrer Arbeit. Die Erfahrung lehrt freilich eher, dass die Verletzlichkeit des Menschen – seine gesundheitliche Verletzlichkeit eingeschlossen – sich auf neue Weise zeigt, wenn alte Gefährdungen gebannt sind. So beeindruckend die Fortschritte der Medizin sind, wird diese Art der Verletzlichkeit auch weiterhin zu den Bedingungen des menschlichen Lebens gehören. Das hat Konsequenzen für die Frage, ob es im strengen Sinn ein Recht auf Gesundheit gibt.
Gesundheit lässt sich nicht einklagen. Es gibt für sie keine Garantie, wie jedem bewusst ist, der einer anderen Person Gesundheit
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