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Ethik: Grundwissen Philosophie

Ethik: Grundwissen Philosophie

Titel: Ethik: Grundwissen Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Detlef Horster
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Stelle spricht er von der Vergleichbarkeit mit mathematischen Axiomen. (Vgl. Ross 2002, 29, 32) Oder er sagt, dass die [36] Daten der Ethik die moralischen Überzeugungen von reflektierten und gebildeten Menschen sind, so wie die Sinneswahrnehmungen die Daten für die Naturwissenschaften ergeben. (Vgl. Ross 2002, 41)
    Hier nun zunächst die Aufzählung der Handlungseigenschaften beziehungsweise Prima-facie-Pflichten (vgl. Ross 2002, 21):
    1. Wahrhaftigkeitspflicht (fidelity)
    2. Wiedergutmachungspflicht (reparation)
    3. Dankbarkeitspflicht (gratitude)
    4. Pflicht verteilender Gerechtigkeit (justice)
    5. Pflicht der Wohltätigkeit (beneficence)
    6. Pflicht, die man sich selbst gegenüber hat, sich zu vervollkommnen (self-improvement)
    7. Pflicht, anderen nicht zu schaden (nonmaleficence)
    Neben allgemeinen Verpflichtungen, also der Pflicht zur Wahrhaftigkeit, zur Gerechtigkeit, zur Wohltätigkeit, zur Selbstvervollkommnung und der, anderen nicht zu schaden, bestehen nach Ross besondere Pflichten. Sie entspringen einer realen Situation. So die Dankbarkeitspflicht und die Wiedergutmachungspflicht. Sie ergeben sich aus Situationen, in denen man anderen Schaden zugefügt oder von anderen Gutes erfahren habe.
    Wenn man nun seine Pflichten kennt, muss man in der realen Situation dennoch die Einzelhandlung im Blick haben, in der sich für den Handelnden seine konkreten Pflichten ergeben, die aus den Prima-facie-Pflichten erwachsen. Beispielsweise entspringe die Pflicht, sich an die Gesetze seines Landes zu halten, zum Teil aus der Dankbarkeitspflicht, denn man hat ja von seinem Land Wohltaten erhalten. (Vgl. Ross 2002, 27) Die Pflicht, Gesetze einzuhalten, ist demnach eine aus den Prima-facie-Pflichten abgeleitete eigentliche oder konkrete Pflicht in einer Handlungssituation.
    In der Lebenssituation selbst muss man sich einen möglichst informierten Überblick verschaffen und dann entscheiden, welche Pflicht als höher anzusehen ist. Eine Regel dafür, [37] welche Pflichten in jedem Fall als höherrangig zu bewerten sind, gibt Ross nicht an, außer der Vermutung, dass es für jeden evident sei, dass man eher seinen Wohltätern als seinen Feinden hilft oder dass man, bevor man für wohltätige Zwecke spendet, zuvor seine Schulden bezahlt, wenn man nicht beides zugleich tun kann. (Vgl. Ross 2002, 30) Kommt man zu der Auffassung, dass die moralischen Pflichten gleich stark sind, entgeht man dem Dilemma nicht durch Nichthandeln. Es wäre falsch, gar keiner Pflicht nachzukommen. Um die Pflichten gegeneinander abwägen zu können, gibt es allerdings keine Regel. Das Einzige, was man sagen könnte, ist, dass die kantischen »vollkommenen Pflichten« ein hohes Maß an Verbindlichkeit hätten. (Vgl. Ross 2002, 41f.) Doch das hilft nicht viel weiter. Jeder Fall müsse aus sich selbst heraus beurteilt werden. Um die Pflichten gegeneinander abzuwägen, braucht man Urteils- und Einfühlungsvermögen. (Vgl. Ross 2002, 31)
    Ist Ross’ Theorie abzulehnen, weil er keine verbindliche Regel dafür angibt, wie man ein moralisches Dilemma löst? Darauf antwortet Ross lakonisch, dass monistische Theorien, wie die kantische Moralphilosophie, ebenfalls kein Instrumentarium bereitstellen, um solche Konflikte eindeutig lösen zu können. (Vgl. Ross 2002, 23) Auch sie lehnt man deshalb nicht ab. Kant selbst kam in große Schwierigkeiten, die Realität einer Situation, wie der, die er mit Constant diskutierte, einzuschätzen und zu einer Problemlösung zu kommen.
Noch einmal: Die konkrete Entscheidung in einer Dilemmasituation
    In Anlehnung an Ross’ Überlegung, dass man sich in einer konkreten Entscheidungssituation einen Überblick verschaffen und alle möglichen Informationen einholen und dann mit Urteils- und Einfühlungsvermögen entscheiden müsse, habe [38] ich ein anwendungsbezogenes Stufenmodell mit vier systematischen Schritten entwickelt, das hilfreich sein kann bei der Lösung moralischer Dilemmata. Zu klären ist:
    1. Welche objektiven Pflichten stehen in Konkurrenz?
    2. Welche Zusatzinformationen hat man im konkreten Fall?
    3. Hat eine oder haben mehrere Pflichten für den in der Situation Entscheidenden Vorrang vor anderen und warum?
    4. Kann man mit der angestrebten Entscheidung leben, das heißt, ohne rot zu werden in den Spiegel gucken?
    Nehmen wir den konkreten Fall der Alicja Tysiac (vgl. Roser 2005) als Beispiel für die Anwendung dieses Stufenmodells: Vor dem Risiko der Erblindung bei einer erneuten Schwangerschaft hatten die

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