Ethik: Grundwissen Philosophie
geradezu revolutionäre Gesellschaftskritik.« (Höffe 1981, 46) Und er richtete sich vor allem auch gegen die viktorianischen Moralgrundsätze. (Vgl. Williams 1978, 106)
Der Utilitarismus stimmt »zugleich mit einem allgemeinen Grundzug des Menschen überein […]: mit dem Streben nach Glück« (Höffe 2003, 15). Für Jeremy Bentham ist das Streben nach Glück im Gegensatz zu Kant und in Übereinstimmung mit Aristoteles ein apodiktisch evidenter Beginn für die Entwicklung einer Moralphilosophie. Dieses Glücksstreben identifiziert Bentham mit dem hedonistischen Streben nach Lust, für ihn eine anthropologische Grundkonstante. (Vgl. Höffe 1981, 44) Unbrauchbar könnte der anscheinend evidente Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Moralphilosophie allerdings werden, wenn das Streben nach individuellem Wohlergehen mit dem allgemeinen nicht übereinstimmt. (Vgl. Höffe 2003, 16) Denn einerseits ist dieses Streben individuell und andererseits zielt der benthamsche Utilitarismus auf die gleiche Berücksichtigung aller Menschen ohne Unterschied.
Jeremy Bentham zielte darauf ab – und darin zeigt sich sein sozialrevolutionärer Impetus sehr deutlich –, die gesamte Gesetzgebung, das Finanzwesen und die politische Ökonomie zu reformieren. Doch die Einleitung zu einem Gesetzbuch, das alles das beinhalten sollte, entwickelte sich während des Schreibens zu einer eigenen umfangreichen Schrift, in der die Grundzüge des Utilitarismus niedergelegt sind. (Vgl. Höffe 2003, 14) Es ist die Schrift mit dem Titel
Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung
.
[42] Nun ist es schon auf den ersten Blick klar, dass es nicht einfach sein wird, bei einer moralischen Entscheidung das Glück aller als Ziel moralischen Handelns im Blick zu haben. Das sieht Jeremy Bentham selbstverständlich auch. Doch stellt er sich dieser Aufgabe mit Akribie. Entscheidend sind für ihn folgende sechs Merkmale, nach denen der Glückswert zunächst für jeden einzelnen Menschen berechnet werden soll (vgl. Bentham 2003, 80):
1. die Intensität und
2. die Dauer des Glücks
3. die Gewissheit oder Ungewissheit und
4. die Nähe oder Ferne des Eintritts
5. die Folgenträchtigkeit
6. die Reinheit einer Freude oder eines Leids
Hinzu kommt als siebtes Merkmal das Ausmaß, also die Frage, auf wie viele Personen sich die Freude oder das Leid erstreckt.
Nun soll man nach seiner Ansicht die Glückswerte eines jeden Einzelnen, der von der Handlung betroffen ist, mit einem bestimmten Faktor errechnen, sodass sich am Ende mathematisch genau ein kollektiver Gesamtnutzen ergibt. Der Gesamtnutzen hätte danach ein hohes Maß an Rationalität: Er muss größer beziehungsweise keinesfalls kleiner sein als bei einer anderen Handlungsmöglichkeit. Die Idee hat im 19. Jahrhundert der Nationalökonom Wilfredo Pareto (1848–1923) aufgenommen und in den Grundsatz gekleidet, den man seither Pareto-Superiorität nennt: Bei wirtschaftlichen Veränderungen muss mindestens ein Wirtschaftssubjekt bessergestellt werden, ohne dass sich gleichzeitig ein anderes verschlechtert. Ist der Zustand erreicht, dass sich nichts verbessern lässt, dann nennt man ihn pareto-optimal oder spricht vom Pareto-Optimum. John Rawls (1921–2002) wollte mit seinem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz den Gesamtnutzen dadurch erhöhen, dass zunächst die Schlechtergestellten bessergestellt werden: Neue Ungleichheiten müssten so beschaffen sein, dass sie den am wenigsten [43] Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. (Vgl. Rawls 1975, 336)
Dass die Anwendung von Benthams Verfahren in jedem Einzelfall außerordentlich aufwendig und schwierig ist, ist ihm selbst klar. Darum sagt er einschränkend: »Es kann nicht erwartet werden, daß dieses Verfahren vor jedem moralischen Urteil und vor jeder gesetzgebenden oder richterlichen Tätigkeit streng durchgeführt werden sollte. Es mag jedoch immer im Blick sein, und je mehr sich das bei solchen Anlässen tatsächlich durchgeführte Verfahren diesem annähert, desto mehr wird sich ein solches Verfahren dem Rang eines exakten Verfahrens annähern.« (Bentham 2003, 81)
Der neben Bentham als zweiter Begründer des Utilitarismus geltende John Stuart Mill (1806–1873) knüpft an Benthams Identifizierung des Glücks mit dem hedonistischen Prinzip der Lust und Unlust an. Mill stellt heraus, dass es auch andere Formen von Lust gibt. Er will damit den Eindruck vermeiden, dass der Utilitarismus gegen wissenschaftliche, künstlerische
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