Ethik: Grundwissen Philosophie
Ärzte Alicja schon nach der Geburt ihres zweiten Kindes gewarnt. Ihre bislang sorgfältig durchgeführte Empfängnisverhütung scheiterte, als ein Kondom platzte. Alicja wurde schwanger. Sie stand nun vor der Entscheidung, ob sie das Risiko der Erblindung auf sich nehmen oder abtreiben solle. Alicja trägt bereits eine Brille mit einem Brechwert von 20 Dioptrien. Was sollte Alicja, die sich innerhalb ihres ersten Schwangerschaftsmonats entscheiden wollte, nun tun?
1. Der erste Schritt ist die Beantwortung der Frage, welche Pflichten hier angesprochen sind. Da ist zum einen der Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens. Auf der anderen Seite stehen der Schutz der Gesundheit von Alicja und ihre Fürsorgepflicht gegenüber ihren beiden anderen Kindern.
2. Mögliche Zusatzinformationen sind von anderen Ärzten einzuholen, beispielsweise eine Antwort auf die Frage, ob eine Erblindung nicht doch zu vermeiden ist, etwa durch einen Kaiserschnitt.
3. Nun erst kommen die persönlichen Prioritäten ins Spiel. Je nach eigener Überzeugung, welche Pflicht schwerer wiegt, entscheidet man sich für die eine oder andere Seite, denn man kann in einer Dilemmasituation einer Pflicht nur dadurch nachkommen, dass man eine andere verletzt. [39] Susanne Boshammer spricht in diesem Zusammenhang überaus adäquat von unterschiedlichen »Gewichtsklassen« verschiedener moralischer Pflichten. (Vgl. Boshammer 2008a, 80)
4. Alicja muss die Entscheidung so treffen, dass sie mit ihr leben und ruhig schlafen kann. Diese Frage muss vorausschauend beantwortet werden.
Alicja muss dann, wenn sie einer Pflicht nachkommt, beispielsweise das Leben des Ungeborenen zu schützen, eine andere Pflicht verletzen, nämlich ihre Fürsorgepflicht für die beiden bereits geborenen Kinder. Das bedeutet nicht – das muss betont werden –, dass diese moralische Pflicht dadurch außer Kraft gesetzt würde. Sie bleibt weiterhin als objektive moralische Pflicht bestehen. Sie konnte nur in dieser einen Situation nicht befolgt werden, weil einer anderen Vorrang eingeräumt wurde. William D. Ross ist der Auffassung, dass man gegenüber denen, die von der Nichterfüllung der Pflicht betroffen sind, eine Wiedergutmachungspflicht hat, wie auch immer diese von Alicja Tysiac erfüllt werden könnte: für den Fall, dass sie sich für das dritte Kind entscheidet, möglicherweise so, dass sie den beiden anderen Kindern eine vergleichbar gute Versorgung sichert, wie sie ihnen zugekommen wäre, wenn die Mutter nicht erblindet wäre.
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Utilitarismus
Der zweite Einwand von C gegenüber dem Ansinnen seines Freundes A, zum Fußballspiel gehen zu wollen, lautete: »Der Schaden, den B erleiden würde, würde das Vergnügen, das du erwartest, bei Weitem überwiegen.« C argumentiert utilitaristisch. Im Gegensatz zu einem Deontologen, der die unbedingte Erfüllung von Pflichten fordert, hat der Utilitarist die Wirkung der Handlung im Blick und verwahrt sich gegen einen »Prinzipienrigorismus«. (Pauer-Studer 2003, 38) »Die Folgenabwägung verbietet etwa, dass jemand aufgrund eines rigoros verstandenen Lügenverbots unschuldige Menschen ihren Verfolgern ausliefert.« (Pauer-Studer 2003, 38) Darum gilt der Utilitarismus als die klassische Gegenposition zur kantischen Deontologie. Das lateinische »utilitas« heißt übersetzt: Nutzen, Nützlichkeit, Vorteil oder Brauchbarkeit. Meist wird als utilitaristisches Prinzip, auf dem die Anleitung für moralisches Handeln beruht, Folgendes genannt: »Diejenige Handlung ist die beste, die das größte Glück der größten Anzahl zeitigt.« (Hutcheson 1986, 71) Doch nicht Francis Hutcheson (1694–1746), der bei der Abhandlung über den Sensualismus noch ausführlicher zu Wort kommen soll, wird als Begründer des Utilitarismus genannt. Im Grunde kann man bis auf die antike Philosophie Platons zurückgehen, doch Jeremy Bentham (1748–1832) war es, der als erster Philosoph in der Geschichte den Utilitarismus systematisch ausgearbeitet hat. Bentham schreibt den Beweis David Hume (1711–1776) zu, »[t]hat the foundations of all virtue are laid in utility« (Pauer-Studer 2007, 291).
[41] Handlungsutilitarismus
Der Utilitarismus entstand in einer Zeit, in der er sich als eine sozialrevolutionäre Theorie verbreiten konnte. »Angesichts der damals bestehenden Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen einer dünnen Schicht Privilegierter enthält die in das Kalkül übersetzte Maxime, jeden ohne Unterschied zu berücksichtigen, eine
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