Eugénie Grandet (German Edition)
verdehnt und verbogen sind; dort grüßen verwitterte, geschwärzte Blumenbretter, deren zierliches Schnitzwerk kaum mehr erkennbar ist. Sie brechen fast zusammen unter der Last des Nelken- oder Rosenstöckchens, das irgendeine kleine Näherin ihnen anvertraute. Etwas weiter finden sich mit riesigen Nägeln beschlagene Haustore, auf denen das Genie unserer Vorfahren ein Stück Familiengeschichte in Hieroglyphen festgehalten hat, deren Sinn nie mehr entziffert werden kann. Da hat vielleicht ein Hugenotte sein Glaubensbekenntnis niedergelegt und ein Mitglied der Liga eine Verwünschung auf Heinrich IV. angebracht. Ein anderer Bürger suchte durch Insignien den Glanz seines Schöffenamtes festzuhalten. Die ganze Geschichte Frankreichs ist zu sehen. Neben dem Hause dort im bröckelnden Kalkbewurf erhebt sich der Palast eines Edelmanns. Der steinerne Torbogen zeigt noch die Spuren eines Wappens, das von den Revolutionen, die seit 1789 getobt haben, zerstört worden ist.
In dieser Straße sind die Handelsräume des Erdgeschosses weder Kaufläden noch Warenlager. Der Freund des Mittelalters wird hier die Werkstätten unserer Väter in all ihrer naiven Schlichtheit wiederfinden. Die niedrigen Hallen, die weder Schaufenster noch Aushängekasten haben, sind tief und dunkel und innen wie außen ohne jeden Schmuck. Ihre massiven, eisenbeschlagenen Türen bestehen aus zwei Teilen, deren oberer nach innen geöffnet wird und deren unterer, mit einer Glocke versehen, ununterbrochen in Bewegung ist. Luft und Tageslicht dringen in diese feuchtdumpfe Grotte teils oben durch die Türe ein, teils durch den Zwischenraum zwischen der Gewölbedecke und der in Brusthöhe abschließenden Mauerwand. Hier sind kräftige Holzverschläge eingefügt, die des Morgens geöffnet und des Abends geschlossen und mittels eiserner Bolzen verriegelt werden. Auf dieser Mauer werden die Waren des Händlers ausgebreitet. Da gibt es keinen marktschreierischen Betrug. Die Warenproben bestehen in zwei oder drei Säcken Salz oder Stockfisch, in einigen Rollen Segeltuch, in Seiler- und Messingwaren, die von den Deckenbalken herabhängen, in Faßreifen, die an die Mauer gelehnt sind, oder in einigen in Fächern aufgestapelten Ballen Tuch.
Tretet ein. Ein sauberes, nettes junges Mädchen im weißen Brusttuch mit runden roten Armen legt ihr Strickzeug beiseite und begrüßt euch freundlich. Dann ruft sie den Vater oder die Mutter, die bedächtig eintreten und euch je nach ihrem Charakter oder Temperament bedienen: heiter oder phlegmatisch oder herablassend – mag es sich nun um einen Gegenstand von zwei Sous oder zwanzigtausend Francs handeln.
Dort drüben seht ihr einen Holzhändler vor seiner Türe sitzen. Er schwatzt mit dem Nachbar und dreht dabei gemächlich die Daumen. Er hat anscheinend nur einige schlechte Flaschenbretter und zwei oder drei Bündel Latten anzubieten; aber sein Holzlager am Hafen versorgt alle Böttcher in ganz Anjou. Er weiß bis auf ein Brett genau, wieviel Fässer gebaut werden, wenn die Ernte gut ist. Ein Sonnenwetter macht ihn reich, eine Regenzeit ruiniert ihn. An einem einzigen Vormittag steigen die Ohmfässer auf elf Francs oder fallen auf sechs. Denn hierzulande – wie in der Touraine – beherrscht der Witterungswechsel das Handelsleben. Weinbauern, Gutsbesitzer, Holzhändler, Böttcher, Gastwirte, Schiffer – alle liegen auf der Lauer nach einem Sonnenstrahl. Wenn sie sich abends schlafen legen, zittern sie davor, am andern Morgen zu bemerken, daß es in der Nacht gefroren hat. Sie fürchten den Regen, den Wind, die Dürre und verlangen, daß Wasser, Bewölkung und Hitze sich nach ihren Wünschen richten. Ein fortwährender Zwiespalt herrscht zwischen dem Himmel und den irdischen Interessen. Das Barometer schafft betrübte oder heitere oder zufriedene Gesichter. Hier in der alten Straße, der einstigen Hauptstraße von Saumur, wandert der Ausruf ›Ein goldenes Wetter!‹ von Haus zu Haus. Und jedermann erwidert seinem Nachbar: ›Es regnet Goldstücke!‹ im vollen Bewußtsein, was ein Sonnenstrahl, was ein rechtzeitiger Regenguß ihm bedeutet.
In der schönen Jahreszeit gegen Samstagmittag werdet ihr jedoch bei diesen braven Händlern nicht für einen Sou mehr Ware bekommen. Ein jeder hat seinen Weingarten, seinen Landsitz, und ist für zwei Tage hinausgepilgert. Dort ist alles, Einkauf wie Verkauf und Gewinn vorhersehbar, und so sehen sich die Kaufherren in der angenehmen Lage, zehn Stunden von zwölf in behaglichem Spiel,
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