Eugénie Grandet (German Edition)
Schatz ausgegraben?« sagte ihr Mann, zu seiner Frau ins Zimmer tretend. »Mein lieber Mann, ich bete, warte ein wenig«, erwiderte mit bebender Stimme die arme Mutter. »Was zum Teufel geht mich dein lieber Gott an«, grollte Grandet.
Der Geizhals glaubt nicht an ein zukünftiges Leben; für ihn ist die Gegenwart alles. Diese Betrachtung wirft ein grelles Licht auf unsere Zeit, in der mehr als in früheren Zeiten das Geld Gesetze, Politik und Sitten regiert. Lebensgewohnheiten, Bücher, Menschen und vorgefaßte Meinungen – alles wirkt zusammen, um den Glauben an ein zukünftiges Leben zu untergraben, einen Glauben, auf den das soziale Gebäude sich seit achtzehnhundert Jahren stützte. Heutzutage ist das Grab eine wenig gefürchtete Durchgangsstation. Die Zukunft, die unser nach dem Requiem wartete, ist in die Gegenwart hineingetragen worden. Per fas et nefas ins irdische Paradies des Luxus und der vergänglichen Freuden zu gelangen, sein Herz zu versteinern und seinen Leib zugrunde zu richten um irdischen Besitzes willen, so wie man ehemals das Martyrium des Lebens trug um der ewigen Güter willen – das ist heute der allgemeine Gedanke! Ein Gedanke, der sich überall niedergelegt findet, sogar in den Gesetzen, die den Gesetzgeber fragen: »Was zahlst du?« statt »Wie denkst du?« Wenn diese Doktrin vom Bürgerstand bis ins Volk hinabgedrungen sein wird, was soll dann aus dem Land werden?
»Madame Grandet, bist du fertig?« fragte der alte Böttcher.
»Mein Lieber, ich bete für dich.«
»Sehr gut! Gute Nacht. Morgen früh reden wir miteinander.«
Die arme Frau entschlummerte wie der Schüler, der seine Aufgaben nicht gelernt hat und fürchtet, beim Erwachen das empörte Gesicht seines Lehrers zu erblicken. Gerade als sie sich vor Angst fest in die Decken rollte, um nichts mehr zu hören, schlich sich Eugénie im Hemd und mit nackten Füßen zu ihr; sie küßte sie auf die Stirn.
»O du gute Mutter«, sagte sie, »morgen erzähle ich ihm, daß ich es gewesen bin.«
»Nein; er wird dich nach Noyers schicken. Laß mich nur machen, er wird mich nicht fressen.«
»Hörst du, Mama?«
»Was?«
»Ach, er weint noch immer.«
»Geh ins Bett, mein Kind. Du wirst kalte Füße bekommen; die Fliesen sind feucht.«
So endete der festliche Tag, der das Leben der reichen und armen Erbin für immer beschweren sollte; schon war ihr Schlummer weniger lang und weniger friedvoll als bisher. Nicht selten erscheinen uns literarisch gesprochen gewisse Ereignisse, obgleich sie wahr sind, unwahrscheinlich. Aber versäumen wir nicht fast stets, auf unsere plötzlichen Entschlüsse ein psychologisches Licht zu werfen, die ganz geheimen Gründe aufzudecken, die sie notwendig machten?
Die unergründlich tiefe Liebe Eugénies wurzelte vielleicht in den allerzartesten Nervenfäserchen; denn sie wuchs sich, wie manch ein Spötter sagen wird, zu einer Krankheit aus, die ihr ganzes Dasein beschattete. Viele Leute ziehen es vor, eine Entwicklung zur Katastrophe hin zu leugnen, statt die Fäden und Knoten, die Kraft des Gewebes zu prüfen, das in der sittlichen Weltordnung eine Handlung an die andere knüpft. Hier nun wird den Menschenkennern Eugénies bisheriges Leben ein Beweis sein für ihre kindliche Unüberlegtheit und für die Hilflosigkeit ihrer Seele gegenüber der Plötzlichkeit dieses neuen Empfindens. Je einförmiger ihr Leben bisher verlaufen war, um so lebhafter entfaltete sich jetzt in ihrer Seele das weibliche Mitleiden – das scharfsinnigste aller Gefühle. Aufgeregt durch die Ereignisse des Tages, hatte sie einen unruhigen Schlaf; sie erwachte mehrmals und horchte auf die Stimme des Cousins: sie vermeinte von neuem seine Seufzer zu hören, die seit dem Vorabend in ihrem Herzen widerklangen. Bald sah sie ihn vor Kummer vergehen, bald glaubte sie, daß er Hungers sterbe. Gegen Morgen vernahm sie mit Bestimmtheit einen schrecklichen Aufschrei. Sofort kleidete sie sich an und lief leichtfüßig hinauf zum Zimmer des Cousins, dessen Tür nicht verschlossen war. Der Tag graute. Die Kerze in der Leuchterdille war niedergebrannt. Charles, den der Schlaf übermannt hatte, schlief angekleidet im Lehnstuhl; sein Kopf war zur Seite auf das Bett gesunken; er träumte lebhaft, wie Leute träumen, die einen leeren Magen haben.
Eugénie konnte nach Herzensbedürfnis weinen; sie konnte das junge schöne Antlitz betrachten, das in Schmerz erstarrt war, die vom Weinen geschwollenen Augen, die noch im Schlaf Tränen zu vergießen
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