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Eugénie Grandet (German Edition)

Eugénie Grandet (German Edition)

Titel: Eugénie Grandet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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schienen.
    Charles empfand unwillkürlich die Anwesenheit Eugénies; er öffnete die Augen und sah sie mit dem Ausdruck tiefster Rührung vor sich stehen.
    »Verzeihung, liebe Cousine«, sagte er. Er hatte offenbar keine Ahnung, wieviel Uhr es war und wo er sich befand.
    »Es gibt hier Herzen, lieber Cousin, die Ihren Schmerz hören und ihn verstehen, und wir glaubten, Sie hätten vielleicht irgend etwas nötig. Sie müssen sich niederlegen; Sie ermüden nur in so unbequemer Lage.«
    »Sie haben recht.«
    »Also folgen Sie meinem Rat. Auf Wiedersehen.«
    Sie eilte davon, beschämt und dennoch glücklich, nach ihm gesehen zu haben, Nur die Unschuld ist so verwegen. Die Tugend, die wissende Tugend ist berechnend wie das Laster. Eugénie, die sich in Gegenwart des Cousins ganz sicher gefühlt hatte, konnte sich, als sie nun wieder in ihrem Stübchen war, kaum auf den Beinen halten. Die Einfalt ihres Daseins hatte plötzlich ein Ende genommen; sie sann und prüfte, sie machte sich tausend Vorwürfe: ›Was wird er von mir denken? Er wird glauben, ich liebe ihn.‹ Gerade das war es, was sie am liebsten gesehen hätte. Die Liebe ist eine suggestive Kraft und weiß, daß Liebe Liebe erweckt. Welch ein Ereignis für das einsame junge Mädchen, so verwegen bei einem jungen Mann eingetreten zu sein! Gibt es nicht in der Liebe Gedanken und Handlungen, die für gewisse Seelen einem heiligen Verlöbnis gleichkommen?
    Eine Stunde später trat sie bei ihrer Mutter ein und half ihr, wie gewöhnlich, beim Ankleiden. Dann setzten sie sich beide auf ihren Platz am Fenster und erwarteten Grandet mit jener Unruhe und Angst vor einer Szene, vor Strafe, die das Herz erstarren läßt oder heiß macht, es zusammenkrampft oder ausdehnt, je nach Temperament verschieden. Selbst die Haustiere beweisen uns, daß Angst den Schmerz verdoppelt: sie schreien bei dem geringfügigsten Schmerz einer Züchtigung und schweigen, wenn sie sich selbst eine empfindliche Wunde beibringen. Der Biedermann kam herunter, aber er sprach nur ein paar zerstreute Worte mit seiner Frau, küßte Eugénie und – setzte sich zu Tisch; er schien seine Drohungen vom gestrigen Abend vergessen zu haben.
    »Was macht mein Neffe? Der Junge ist nicht übertrieben aufdringlich.«
    »Er schläft, Monsieur«, sagte Nanon.
    »Um so besser, da braucht er keine Wachskerze«, sagte Grandet scherzhaft.
    Diese seltsame Milde, diese bittere Heiterkeit überraschten Madame Grandet; sie blickte ihren Gatten besorgt an. Der Biedermann – hier mag die Bemerkung angebracht sein, daß in der Touraine, in Anjou, in Poitou und in der Bretagne die Bezeichnung ›Biedermann‹, die hier schon häufig Grandet zuteil wurde, sowohl für die rohesten wie für die gütigsten Menschen Anwendung findet, sobald sie ziemlich bejahrt sind; die Bezeichnung hat mit Sanftmut oder Redlichkeit der Person durchaus nichts zu tun – nahm also wieder seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: »Ich werde auf den Marktplatz spazieren und sehen, ob ich unsern Cruchots begegne.«
    »Eugénie, dein Vater hat entschieden etwas im Sinn.«
    So war es. Grandet, der kein Langschläfer war, widmete oft die halbe Nacht den Kalkulationen, die seinen Ansichten, seinen Plänen ihre erstaunliche Sicherheit verliehen und ihnen stets Erfolg verschafften, worüber die Saumuraner sich immer von neuem wunderten. Alle menschliche Macht ist ein Resultat von Zeit und Geduld. Die mächtigen Leute wollen und wachen. Das Leben des Geizhalses ist eine beständige Übung aller menschlichen Kräfte im Dienste des Ichs; es stützt sich auf nur zwei Empfindungen: Eigenliebe und Gewinnsucht. Aber da Gewinnsucht in manchem Sinne die gesunde und wohlberechtigte Eigenliebe verkörpert, so sind Eigenliebe und Gewinnsucht zwei Teile eines Ganzen: des Egoismus. Von daher rührt vielleicht das außergewöhnliche Interesse, das geschickt in Szene gesetzte Geizige erregen. Jeder Geizhals hält die Leute am Fädchen, die sich allen menschlichen Regungen hingeben, und nutzt sie aus. Wo ist der Mensch, der keine Wünsche hätte, und wo der Wunsch, der ohne Geld zu erfüllen wäre?
    Grandet hatte wirklich etwas im Sinne, wie seine Frau sich ausdrückte. Er hatte wie jeder Geizhals ein beständiges Bedürfnis, anderen einen Streich zu spielen, ihnen auf unanfechtbare Weise ihr Geld abzugewinnen. Ist es nicht ein Machtbeweis, andere zu überlisten; sich das Recht zu nehmen, alle die zu vernichten, die so schwach sind, sich ausrauben zu lassen ? Oh, wer kennt

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