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Eugénie Grandet (German Edition)

Eugénie Grandet (German Edition)

Titel: Eugénie Grandet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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nicht das Lamm, das friedlich zu Füßen Gottes ruht, das rührendste Symbol aller Geopferten auf Erden, ihrer Zukunft, das Zeichen, daß Duldung und Schwäche am Ende verherrlicht werden? Dies Lamm – der Geizhals läßt es sich auffüttern, Fett ansetzen, er mästet es, schlachtet es, brät es, verzehrt es – und verachtet es. Die Nahrung der Geizigen besteht aus Geld und Verachtung. Während der Nacht hatten die Gedanken des Biedermanns eine andere Richtung angenommen: daher seine Milde. Er hatte einen Plan ausgeheckt, um den Parisern einen Streich zu spielen, sie zu würgen und zu kneten, sie kommen, eilen, schwitzen, hoffen, erbleichen zu lassen, damit er, der frühere Böttcher, in seinem grauen Saale, auf der morschen Treppe seines Hauses in Saumur sich über sie lustig machen könne. Er hatte sich mit seinem Neffen befaßt. Er wollte die Ehre seines verstorbenen Bruders retten, und es sollte weder ihm noch seinem Neffen einen Sou kosten. Da er überdies seine Gelder für drei Jahre hinaus festlegen wollte und ihm nichts mehr zu tun blieb, als seine Güter zu verwalten, so bedurfte sein boshafter Tätigkeitsdrang neuer Nahrung, und die hatte er nun im Bankrott seines Bruders gefunden. Da er keinen in Händen hatte, den er zermalmen konnte, wollte er zugunsten Charles' die Pariser zerstampfen und sich so auf billige Weise als guter Bruder zeigen. Die Ehre der Familie hatte mit seinen Absichten so wenig zu schaffen, daß sein guter Wille nur verglichen werden kann mit dem Bedürfnis des Spielers, ein Spiel gut gespielt zu sehen, auch wenn er nicht dabei beteiligt ist. Und dazu brauchte er die Cruchots; aber er wollte sie nicht aufsuchen, sondern er hatte beschlossen, sie zu sich kommen zu lassen und noch am selben Abend die Komödie einzuleiten, deren Plan er heute nacht ausgeheckt hatte. Dann würde er am andern Tage für ganz Saumur ein Gegenstand der Bewunderung sein – und es würde ihn keinen Centime kosten.
    Während der Abwesenheit des Vaters genoß Eugénie das Glück, sich nach Herzenslust mit dem vielgeliebten Cousin beschäftigen zu können. Ohne Bangen schüttete sie den ganzen Schatz ihres Mitgefühls über ihn aus. Mitgefühl – das ist die einzige Überlegenheit der Frau, die einzige, die sie gern fühlen lassen will, die einzige, die sie dem Mann verzeiht, wenn er sich dabei ertappen läßt. Drei- oder viermal ging Eugénie und lauschte auf die Atemzüge des Cousins, horchte, ob er schlief; ob er erwachte. Dann, als er aufstand, widmete sie ihre Sorgfalt dem Rahm, dem Kaffee, den Früchten, den Tellern und Gläsern, kurz allem, was auf den Frühstückstisch kommen sollte. Leichtfüßig stieg sie auf der alten Treppe umher, um den Geräuschen zu lauschen, die aus der Stube des Cousins kamen. Kleidete er sich an? Weinte er noch? Sie schlich zur Tür.
    »Lieber Cousin?«
    »Liebe Cousine?«
    »Wollen Sie unten im Saal frühstücken oder in Ihrem Zimmer?«
    »Wo Sie wollen.«
    »Wie geht es Ihnen?«
    »Liebe Cousine, ich bin beschämt – ich habe Hunger.«
    Diese Unterhaltung durch die Tür erschien Eugénie so interessant wie eine Episode in einem Roman.
    »Dann wollen wir Ihnen also das Frühstück heraufbringen, um den Vater nicht zu verdrießen.«
    Fröhlich wie ein Vogel schwebte sie zur Küche hinunter.
    »Nanon, geh und bring sein Zimmer in Ordnung.«
    Die so vielbenutzte alte Treppe, auf der man alle Geräusche im Hause vernehmen konnte, hatte für Eugénie alle müde Altersschwäche verloren; ihr schien sie hell und redselig und jung – jung wie sie selbst und ihre Liebe, der sie diente. Sogar ihre Mutter, ihre gute, nachsichtige Mutter wollte teilnehmen an ihren kleinen Herzensfreuden, und als Charles' Zimmer aufgeräumt war, gingen sie alle beide hinauf, um dem Unglücklichen Gesellschaft zu leisten. Gebot nicht die christliche Barmherzigkeit, ihm Trost zu spenden? Die beiden Frauen wußten aus ihrer Religion allerlei Sophismen zu ziehen, um ihre Handlungsweise vor sich selbst zu rechtfertigen. Charles Grandet sah sich also als den Gegenstand innigsten und zärtlichsten Sorgens. Sein kummerschweres Herz fühlte dankbar die Süße der sanften Freundschaft, der tiefen Sympathie, die diese beiden stets unterdrückten Seelen zu entfalten wußten – nun, da es Leid zu lindern galt und sie es darum wagen durften, frei aufzuatmen.
    Infolge ihrer Verwandtschaft mit Charles hatte Eugénie den Mut, seine Wäsche zu ordnen und seine Toilettengegenstände auszubreiten. Nun konnte sie nach

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