Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
Stroboskops zerhackt, hebt sie langsam ihren Kopf, ihr Köpfchen, die Lider fallen, öffnen sich, sie versucht, klar zu sehen, ich weiß nicht mehr, ob ihr Make-up verschmiert oder trocken war, und sie sagt, nein, wispert, flüstert: »Du lässt mich jetzt doch nicht allein, oder?«
Dann ist nichts mehr sicher, ein Brei aus dem, was ich erlebt, dem, was ich gesehen, und dem, was ich gehört habe, andere Nächte und diese, alle ein Bacchanal. Stimmt es, dass ich das Mädchen rausgebracht und in ein Taxi gesetzt habe? Ich habe sie schnell vergessen. Habe ich danach wirklich aus einer Magnumflasche Champagner getrunken? Bin ich im Schoß eines Jungen eingenickt? Habe ich auf den Boxen, den Tischen und auf euren Schultern getanzt?
Die Nacht ist nur noch ein Traum; eine unter vielen, ein Mosaiksteinchen in meinem Leben, meinem perfekten Leben. Nur eine Szene ist klar, fast schon absurd scharf, die Farben schmerzen in den Augen, wenn ich nur versuche, daran zu denken. Ich gehe die kleine Treppe hinauf, die zu einer offenen Eingangstür führt, durch ein Fenster im Treppenhaus über mir dringt das grelle Grau des Morgenhimmels, das Licht brennt, sticht wie heiße Nadeln. Auch meine Schritte auf den Stufen sind unerträglich laut und schrill. Ich drehe mich noch einmal um, schaue durch die Tür nach draußen.
Die Stadt schläft friedlich, noch bewegt sich kein Rollladen, es ist die Zeit zwischen Sperrstunde und Ladenöffnung, zwischen der letzten und der ersten S-Bahn. Jedes Gebäude hat seine Augen geschlossen, holt für ein paar Stunden Luft, bereitet sich auf den nächsten Tag, auf den hektischen, stressigen Alltag vor. Und genau da, aus dem Nichts, kommt Wind auf.
2
TANZTAGE
Gestern musste ich warten. Nicht auf den Tag, nein, der war kein Einzelfall, so lebe ich, ihr Lieben. Ich musste warten, weil meine Tage eigentlich eher Nächte sind. Die guten Clubs mit der richtigen Musik und einem einigermaßen angemessenen, angenehmen Publikum öffnen erst um zehn. Bis sie voll genug sind, um für mich interessant zu sein, ist es Mitternacht, an langsamen Tagen oft der nächste Morgen. Selbstredend ist ein Club niemals der Einstieg in einen Abend à la moi, eurer modernen Sonnenkönigin. Vortrinken ist eine geniale Erfindung, wesentlich bedeutender als Mikrochips oder Rapsöl. Vielleicht die gewichtigste Erfindung unserer Generation, das, was uns definiert, was wir an unsere Nachkommen weitergeben werden, an ihren Alltag genauso wie an ihre Geschichtsbücher, an die Monumente, die sie uns, verzeiht, mir bauen werden. Manche nennen es Vorglühen, aber mir klingt das nach Holzhütte anstatt Partypalast, nach Jägermeistershots an Silvester, nach Schlagermusik, nach verschwitzten Armen, um Taillen gelegt, eine Göttin glüht nicht vor, ich muss nicht warm werden, ich verbrenne euch doch von Anfang an. Ich trinke nur. Ich trinke euch vor, damit ihr etwas zu sehen habt.
Mein Vortrinken ist wie die Ouvertüre einer Oper, es bestimmt das Thema des Abends, stellt die wichtigsten Personen
vor, deutet an, was geschehen könnte, es gibt einem Zeit, noch einmal durchzuatmen, bevor das Drama sich entfaltet, sich in seinen Sitz aus rotem Plüsch – goldene Tressen, hier und da ein paar abgeriebene Stellen – sinken zu lassen, den Kopf freizumachen für das, was kommen wird.
Und außerdem kann man sich während dieser Ouvertüre dem gesamten Publikum präsentieren. Man hat sich stundenlang vor dem heimischen Spiegel, den Schaufenstern und den die Nacht reflektierenden Bustüren herausgeputzt, in Pose geworfen, nur um in der Stille des ersten Tons aus dem Orchestergraben die Stola kontrolliert ein paar Zentimeter verrutschen zu lassen und den Blick auf die Familienjuwelen freizugeben. Man weiß, dass die Steine bis in die obersten Ränge funkeln, man weiß, dass die in tausend Tennisstunden gebräunten Arme einen delikaten Kontrast dazu bilden, man weiß, dass man schön ist. Es hat sich gelohnt, für diesen Auftritt alles zu geben, Geld und Geduld für diese Sicherheit. Man möchte sich räkeln, sich lasziv ausbreiten auf dem Plüsch, die Genugtuung voll auskosten. Doch das wäre stillos. Vulgär. Stattdessen dreht man den Kopf ein wenig, nicht so stark, dass ein Beobachter es als Unaufmerksamkeit gegenüber der Musik deuten könnte, aber weit genug, um die Konkurrenz beurteilen, verurteilen zu können.
Und eben dieses Spiel mit dem Beobachten und Beobachtetwerden, das wir alle so lieben, ist der Sinn und Zweck des Vortrinkens, nicht
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