Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
sie wie Lava aus den Drüsen rinnen, zäh und langsam. Es tut weh. Ich beiße mir auf die Unterlippe, würde sie gerne ganz zerkauen, vom Mund aus mein Gesicht aufessen, um es nicht zu verlieren. Aber sie hat es schon heruntergerissen und in einen ihrer Aktenordner geheftet, meine liebe Mutter, die ordentliche, die ordnende, die mich zum Leben beordert hat. Ich kann mich nicht gegen sie auflehnen. Kann ihr nicht gehorchen. Kann nicht mit ihr reden und auch nicht mit ihr schweigen.
Sie geht. Zu einer Freundin, vermute ich. Wie immer zu einer Freundin, zu der Freundin, die ich ihr nicht sein kann. Ich höre, wie die Haustür ins Schloss fällt, nicht laut und emotional, sondern ganz sachlich, meine Mutter zieht sie erst ganz zu und prüft dann, ob sie sich wieder öffnet, wenn man dagegen drückt. So routiniert. So wie immer.
Es hat nichts verändert.
Es hat nichts gebracht.
Was bringt es mir, noch hier zu warten? Niemand wird kommen, das habe ich doch schon so oft erlebt. Niemand wird sich umdrehen auf der untersten Treppenstufe und hinaufrennen, um mich zu retten, schuldbewusst oder zumindest besorgt. Niemand wird Angst haben, dass ich mir hier die Pulsadern aufschlitze und immer müder werde, immer müder, bis in den Tod. Niemand wird mir beistehen, mir die Gelenke mit Handtüchern abbinden und den Notruf benachrichtigen. Niemand wird mir helfen, denn nur meine Mutter weiß, dass ich hier bin. Und sie liebt mich nicht.
Ich bin allein.
Die Armaturen kommen näher. Verschwommen sehe ich mein Krebsgesicht in der silbernen, beschlagenen Kaltwasserleitung. Ich werde hier verdampfen. Meine Lungenflügel stechen durch meinen Brustkorb, ringen um einen Atemzug, suchen die frische Luft außerhalb der Dusche. Ich muss hier raus. Meine Haut qualmt weiß, die Fingernägel drücken auf das geschwollene Fleisch. Ich muss die Wasserleitung zudrehen. Sie kocht. Ich werfe mich gegen die Glaswand und drücke sie mit meinen Schulterblättern auf. Raus hier, raus. Ein Handtuch um die Hand gewickelt, greife ich noch einmal zurück durch den siedenden Wasserfall an den Hebel und drehe. Das Inferno ist aufgehalten.
Nicht in mir. In mir hat jemand eine Kerze umgestoßen, die jetzt sämtliche Eingeweide wie Vorhänge abfackelt, die Niere zerfällt zu Staub, und die Schleimhäute werden verrußt. Ich muss weg aus dieser Hölle. Brauche Wind und Wetter, um das Feuer zu löschen. Hier drinnen erstickt es nicht, sondern wird von den Gefühlen angefacht, durch die ich waten muss, knietief angestaut über die Jahre, ein Sumpf aus Emotionen. Ich will nicht verbrennen, will nicht versinken, will weg. In der Garderobe hängt der Anorak meiner Mutter. Sie muss doch aufgewühlt gewesen sein oder in Gedanken, sonst hätte sie nicht den leichten Frühlingsmantel genommen. Sie wird es inzwischen wohl gemerkt haben. Es ist kalt draußen. Sogar ich weiß das, und ich bin wohl schon etwas länger nicht außerhalb der Wohnung gewesen, wenn ich recht überlege. Ich habe mich eingeigelt. Und bin jetzt aufgewacht aus dem gemütlichen Winterschlaf.
Wenn sie ihn nicht braucht, kann ich mir den Anorak ja ausleihen. Ich friere jetzt schon. Aus dem Treppenhaus weht eine Brise Polarluft in den Flur. Will ich dort hinaus, in diese Arktis? Habe ich denn nicht eine schöne, behagliche Wohnung?
Nein. Die habe ich nicht mehr, nie wieder.
Auf dem Gehsteig fegt der Wind Zeitungen und Schneeflocken in die Straßengräben, wo sie sich zu einer grauen Suppe vermischen, die an den Ecken der Häuserblocks aus allen Teilen der Stadt zusammenläuft und die auf ihrem Weg die verlorenen Gegenstände der Bewohner sammelt. In den Gullys treffen sich die morgens entsorgten Kaffeebecher der Bauarbeiter mit den nachts abgebrochenen Absätzen der Operngängerinnen. Gemeinsam treten sie dann ihre Reise durch die Kanalisation an, bis sie in einem endlosen
Strudel tief dort unten vor irgendeinem eisernen Gitter darauf warten, von Ratten, Mikroben und Pilzen zersetzt zu werden.
Die wenigen Passanten an diesem widerwärtigen Dezembertag, dem ersten Feiertag ohne einen Anflug von Feierlichkeit, ahnen nicht, dass unter ihren Füßen alles so einfach ist. Nur warten, Wasser einatmen und wissen, dass es bald zu Ende ist. Vorbei.
Die Menschen hier oben kämpfen sich weiter ihren Weg entlang, die Krägen hochgeschlagen und die Nasen in dicken Wollschals vergraben. Aber langsam kriecht die Feuchtigkeit in die Ärmel und lässt die Hände rot und steif werden. Schneewasser tropft in die
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