Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
behielt jedoch die belgische Forderung nach einem britischen EWG-Beitritt, der schließlich zum 1. Januar 1973 erfolgte.
Auch in den 1970er Jahren zeichneten sich belgische Politiker durch europapolitische Vorschläge aus, deren bekanntester der Tindemans-Bericht ist. Der damalige Ministerpräsident schlug 1976 weitere vorsichtige Schritte im westeuropäischen Integrationsprozess vor. Seine Vorstellungen berührten sehr stark das Sicherheitsproblem und spiegelten somit die Kontinuität belgischer Europapolitik auch als Mittel der Allianzpolitik wider. Ende der 1980er Jahre diagnostizierte Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene eine zunehmende Orientierungslosigkeit der Gemeinschaft. Da aber die EG gerade durch ihre Anziehungskraft entscheidend zu den Umwälzungen in Mittel-und Osteuropa beigetragen hätte, müsse sie auch auf dem Weg der wirtschaftlichen und politischen Einigung weiter voranschreiten. Belgien forderte eine Bündelung der Kräfte und sprach sich eindeutig für eine Vertiefung
der Gemeinschaft vor einer Erweiterung aus. Auf der Regierungskonferenz in Nizza im Dezember 2000 verteidigte Premierminister Guy Verhofstadt insbesondere die Position der kleineren Länder im Entscheidungsprozess der Europäischen Union, konntesich dabei aber nicht in allen Belangen durchsetzen. Im Irak-Krieg 2003 gehörte Belgien auch zu den entschiedenen Gegnern eines nicht von der UN mandatierten Krieges der Vereinigten Staaten. Auf Veranlassung Ministerpräsident Verhofstadts ergriffen die Staats- und Regierungschefs von Belgien, Luxemburg, Frankreich und Deutschland im April 2003 die Initiative zur Schaffung einer eigenen Verteidigungsgemeinschaft, die für andere europäische Staaten offen sein sollte.
2. Aktuelle Situation
2.1 Politisches System
Seit der 1993 in Kraft getretenen vierten Verfassungsreform ist aus dem Einheitsstaat Belgien ein föderaler Staat geworden. Die Entscheidungsbefugnisse sind zwischen dem nationalen Parlament und den regionalen Parlamenten geteilt. Belgien verbindet die Herrschaftsform der Demokratie und die Organisationsform der Monarchie in einer parlamentarischen Monarchie, in der das Prinzip der Gewaltentrennung mit dem der Gewaltenverschränkung verknüpft wird. »Die föderale gesetzgebende Gewalt wird vom König, von der Abgeordnetenkammer und dem Senat gemeinsam ausgeübt«. 2 Direkt-demokratische Verfahren sieht die Verfassung nicht vor. Die verfassungsmäßige Gewalt des Königs sowie seine Rolle innerhalb der Exekutive sind von der Verfassung genau normiert. Die Regierung ist den beiden Kammern gegenüber verantwortlich. Sie kann beim König die Auflösung der Kammern beantragen. Die rechtsprechende Gewalt wird von den Gerichten ausgeübt. 3 Die Verfassung enthält darüber hinaus einen Grundrechtskatalog, der den Bürgern Freiheitsrechte als Abwehrrechte gegen den Staat garantiert. Belgien versteht sich von der Verfassung her als Rechtsstaat, nicht aber unbedingt als Sozialstaat.
Das Parlament besteht auf Bundesebene aus zwei Kammern, dem Abgeordnetenhaus und dem Senat, mit unterschiedlichen Rechten. »Die Kammern treten von Rechts wegen jedes Jahr am zweiten Dienstag im Oktober zusammen, falls sie nicht schon vorher vom König einberufen worden sind«. 4 Trotz der Verlagerung wichtiger politischer Prozesse in die Gesprächsrunden
der Parteivorsitzenden (tables rondes/ronde-tafel-gesprekken) hat das Parlament weiterhin die Funktion der Kontrolle der Regierung durch das Interpellations-, Enquête- und Fragerecht. Seit der Wahl vom 21. Mai 1995 steht die Abgeordnetenkammer ganz eindeutig im Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses auf Bundesebene, da sie zahlreiche Befugnisse ohne die Zustimmung des Senates ausüben kann. So stimmt sie allein über Vertrauens- bzw. Misstrauensanträge gegen Regierungsmitglieder, Gesetze über die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit der Minister, die Haushaltspläne und Rechnungen des Staates, die Festlegung des Armeekontingentes und die Verleihung von Einbürgerungen (Naturalisierungen) ab. Daneben gibt es aber auch Bestimmungen, für die Senat und Kammer gleichberechtigt zuständig sind: unter anderem die Erklärung zur Verfassungsrevision sowie die Revision selbst, Verabschiedung von Sondergesetzen, Verabschiedung von Gesetzen, welche die jeweiligen Zuständigkeiten der föderalen Behörde, der Gemeinschaften und Regionen festlegen und die Vorbeugung und Beilegung von Konflikten zwischen diesen Gliedstaaten zum Ziel haben, Gesetze zur
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