Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
politische Gestaltungspotenzial der sozial-liberalen Koalition schien nach 13 Jahren Regierungsverantwortung aufgebraucht. Nach dem Koalitionsaustritt der FDP kam es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis des in Artikel 67 GG vorgesehenen konstruktiven Misstrauensvotums zu einem Regierungswechsel. Mit 256 Stimmen erhielt Helmut Kohl (CDU) am 1. Oktober 1982 die zur Kanzlerwahl notwendige Stimmenmehrheit im Bundestag und war damit zum neuen Regierungschef einer christlich-liberalen Koalition gewählt.
Der selbst gesteckte Anspruch der neuen Regierung war hoch: »Politik der Erneuerung« und »historischer Neuanfang« lauteten Slogans aus Kohls erster Regierungserklärung am 13. Oktober 1982. Die von Kohl geführte »Koalition der Mitte« machte die wirtschaftliche Krisenlage der Bundesrepublik Deutschland und deren Behebung zu einem zentralen Thema der Regierungspolitik.
Bis 1989 konnten in der Bundesrepublik Deutschland die Staatsfinanzen stabilisiert, die Steuerbelastungen für Unternehmen und private Haushalte gesenkt und Preisstabilität auf niedrigem Niveau erreicht werden. Allerdings hatte die ökonomische Erfolgsgeschichte der 1980er Jahre auch ihre Schattenseiten. Subventionen wurden nicht abgebaut, Strukturreformen unterblieben, die Sockelarbeitslosigkeit bewegte sich weiter auf hohem Niveau. Die sich seit Mitte der 1970er Jahre entwickelnde Kluft zwischen einem sozial gesicherten Teil der Bevölkerung und den von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg Betroffenen wurde größer.
Die wirtschaftlichen Erfolgsjahre wurden insgesamt nur unzureichend genutzt, um Strukturschwächen des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu beseitigen und grundlegende Modernisierungsprozesse in Angriff zu nehmen. Die ökonomischen Erfolge in den 1980er Jahren überdeckten sowohl die Notwendigkeit unternehmerischer Anpassungsmaßnahmen im globalen Standortwettbewerb als auch die Erfordernis wirtschaftlicher Deregulierung
und die Dringlichkeit von Reformen innerhalb der sozialen Sicherungssysteme.
Innenpolitisch waren die 1980er Jahre von einem Vertrauensverlust der Bundesbürger gegenüber den etablierten Parteien gekennzeichnet. Die Zahl der Nichtwähler und Wechselwähler stieg deutlich an. Gleichzeitig gewannen neue soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen an Bedeutung. Mit den Grünen konnte sich ab 1983 erstmals eine neue Partei dauerhaft auf Bundesebene etablieren. In den ersten Jahren verstanden sich die Grünen vor allem als Protestpartei. Sie trugen wesentlich dazu bei, der Umweltpolitik, einem bisher vernachlässigten Politikfeld, politisches Gehör zu verschaffen und auch die anderen Parteien hierfür zu sensibilisieren. Nach dem Unglück des Kernreaktors im ukrainischen Tschernobyl wurde dem gewachsenen Stellenwert der Umweltpolitik am 5. Juni 1986 mit der Gründung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausdruck verliehen.
Außenpolitisch bekannte sich die von Kohl geführte christlich-liberale Regierungskoalition nachdrücklich zur transatlantischen Partnerschaft. Der NATO-Doppelbeschluss wurde mit breiter parlamentarischer Unterstützung vollzogen. Gleichzeitig wurden die deutsch-französischen Beziehungen intensiviert. Unter Helmut Kohl und François Mitterrand entwickelte sich die Achse Paris-Bonn in den 1980er Jahren zum Motor des europäischen Integrationsprozesses. Im Juni 1983 erfolgte unter deutschem EG-Ratsvorsitz der Versuch, den stagnierenden Integrationsprozess mit der Verabschiedung der »Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union« neu zu beleben. Mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) wurde 1986 die erste umfassende Änderung der EG-Gründungsverträge beschlossen. Bis zum 31. Dezember 1992 sollte der europäische Binnenmarkt verwirklicht werden. Außerdem verfolgten Paris und Bonn seit 1988 die Idee einer europäischen Währungsunion. Diese beiden Ziele wurden von der Bundesregierung als ein Schritt hin zu einer europäischen politischen Union verstanden.
1.5 Vom geteilten zum vereinten Deutschland
Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Einheit durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 GG staatsrechtlich vollendet. Mit diesem Tag fand das über vierzig Jahre währende Kapitel der deutschen Teilung seinen Abschluss. Ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Einheit in den Jahren 1989/90 war die friedliche
Revolution der Menschen in der DDR vom Herbst 1989. Sie
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