Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Bundeskanzlers, der auf Richtlinienkompetenz als taktisches Machterhaltungsinstrument abseits inhaltlicher Fragen setzte, einer keineswegs eindeutig geklärten Führungsfrage innerhalb der Unionsparteien und dem daraus resultierenden gegenseitigen Belauern der Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, diverser Ministerpräsidenten der CDU und des Bayerischen Regierungschefs sowie dem Lavieren der Opposition im Bundestag zwischen konstruktiver Mitarbeit und taktischer Kooperationsverweigerung war zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine eigentümliche Politikmelange entstanden. Gestaltungswille und Gestaltungskraft sind mitunter in der deutschen Politik nicht mehr erkennbar bzw. werden durch Formelkompromisse in Sachfragen übertüncht, deren im höchsten Maße begrenzte Haltwertszeit oft allen Beteiligten bereits beim Aushandeln bekannt ist.
Die Verschleißerscheinungen der rot-grünen Regierungskoalition, die sich bereits 2002 abzeichneten, waren zu Beginn der 15. Legislaturperiode überdeutlich erkennbar. Ernüchterung allenthalben. Offenkundig war die Regierungskoalition von ihrem Wahlsieg am 22. September 2002 selbst überrascht. Schließlich hatte es lange Zeit danach ausgesehen, dass Edmund Stoiber, der Parteivorsitzende der CSU und gemeinsame Kanzlerkandidat von CDU und CSU, das Wettrennen um die Kanzlerschaft würde gewinnen können. Nachdem sich Angela Merkel und Edmund Stoiber am 11. Januar 2002 während des mittlerweile legendären Wolfratshauser Frühstücks auf die Kandidatur des CSU-Vorsitzenden verständigt hatten, lag die Union
bis zum Sommer in den Umfragen klar in Führung. Erst ein vom Medienkanzler Schröder professionell genutztes window of opportunity brachte den Sieg auf der Zielgerade. Die Hochwasserfluten und die Debatte um eine deutsche Beteiligung am Irak-Einsatz der Amerikaner, von Schröder vehement abgelehnt, brachte Rot-Grün den nicht mehr erwarteten knappen Wahlsieg. Mit einem Vorsprung von wenig mehr als 6000 Stimmen wurde die SPD wieder stärkste Partei im Deutschen Bundestag. Zusammen mit den Grünen stellte sie in der 15. Legislaturperiode 306 der 603 Abgeordneten.
Der Neustart von Rot-Grün fiel allerdings ähnlich katastrophal aus wie nach der erstmals gewonnenen Bundestagswahl 1998. Das während der Koalitionsverhandlungen beschlossene so genannte Steuervergünstigungsgesetz scheiterte am Veto des Bundesrates. Gleichzeitig manifestierten die darin vorgesehenen Maßnahmen bei der Bevölkerung und dem politischen Gegner den Eindruck des Wahlbetruges. Sogar ein Bundestagsuntersuchungsausschuss wurde dazu eingesetzt. Die Folge war der Glaubwürdigkeitsverlust in einer Dimension, wie ihn noch keine Regierung erlebt hatte, der der Bundesregierung nachhaltig zu schaffen machte. Dem Ansehen der Bundesregierung ähnlich abträglich war der im Frühjahr 2003 entstandene Streit innerhalb der Koalition um die Agenda 2010, mit der nun versucht werden sollte, den Haushalt zu sanieren und die Konjunktur anzukurbeln. Nur unter massiven Rücktrittsdrohungen konnte Bundeskanzler Schröder die notwendige Mehrheit in den eigenen Reihen für die Abstimmung im Bundestag sichern. Ähnlich kontrovers verliefen vor allem innerhalb der SPD die Diskussionen zur Reform der Sozialversicherungen und Umgestaltungen im Steuersystem. Wieder konnte Schröder nur mit Mühe die Mehrheit für die Abstimmungen im Bundestag im Herbst 2003 sicherstellen.
Massiver Glaubwürdigkeitsverlust bei den Bürgern, erodierender Zusammenhalt der Regierungsfraktionen, offener Widerstand der Gewerkschaften, historisch einmalig hohe Zahl der Parteiaustritte aus der SPD, Verlust der Regierungsgewalt in wichtigen Ländern, ein von den Unionsparteien dominierter Bundesrat sowie hoher Reformdruck in zentralen Politikfeldern hatten die Bundesregierung bereits nach dem ersten Jahr der neuen Legislaturperiode an den Rand ihrer Gestaltungskraft gebracht. Keine Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hatte bislang unter schwierigeren innenpolitischen Rahmenbedingungen politische Verantwortung zu tragen. Dies hatte für die Regierung Schröder handfeste Auswirkungen: Nach vorgezogenen Neuwahlen am 18. September 2005 kam es im Herbst 2005 zu einem Regierungswechsel. Seit dem 22. November 2005 ist Angela Merkel Kanzlerin einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD.
2.2 Wirtschafts- und Sozialpolitik
Den so genannten Reformstau der letzten Jahre der Regierung Kohl zu durchbrechen, war eines der zentralen Ziele, die die
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