Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
allem an der wirtschaftspolitischen Kompetenz der Bundesregierung und regierungsinterne Differenzen über die Sanierung des Staatshaushaltes erzwangen schließlich den Rücktritt Erhards. Ein sich bereits länger andeutender Machtwechsel nach 17 Jahren CDU-Dominanz nahm nun sukzessive Gestalt an. Äußeres Zeichen waren die Bildung einer Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) 1966 und die Wahl Gustav Heinemanns (SPD) als Nachfolger Heinrich Lübkes zum Bundespräsidenten 1969. Die politische Gestaltungsfähigkeit der Großen Koalition zeigte sich weniger in außenpolitischen Belangen als vielmehr auf innen- und wirtschaftspolitischen Handlungsfeldern. Zu den zentralen innenpolitischen Gesetzgebungswerken zählte 1968 die Realisierung der Notstandsverfassung und der Notstandsgesetze. Mit der Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes, dem Beschluss über die Einführung einer mittelfristigen Finanzplanung der Bundes- und der Finanzverfassungsreform 1967 hatte man nicht nur Konsequenzen
aus der Haushaltskrise von 1966/67 gezogen, sondern auch eine Anpassung an veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse vorgenommen.
Nach der Bundestagswahl von 1969 kam es unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) erstmals zu einer sozial-liberalen Regierungsbildung. Prägendes Merkmal der Kanzlerschaft Brandts waren neben dem Ausbau des sozialen Netzes die Ergebnisse seiner Ost- und Deutschlandpolitik. Gegen zum Teil heftigen Widerstand der CDU/CSU im Deutschen Bundestag konnte die sozial-liberale Ost- und Entspannungspolitik durchgesetzt und 1970 der Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion und der Warschauer Vertrag mit Polen, 1972 der Grundlagenvertrag mit der DDR, sowie 1973 der Prager Vertrag mit der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik unterzeichnet werden, »um den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten, die Entspannung zu fördern und die Lage in Europa zu normalisieren« 6 .
Nach dem Rücktritt Brandts 1974 – der persönliche Referent Brandts, Günter Guillaume, war als DDR-Agent im Kanzleramt enttarnt worden – wurde Helmut Schmidt (SPD) in einer Zeit ökonomischer und innenpolitischer Krisensituationen zu seinem Nachfolger als Bundeskanzler gewählt. Die innenpolitische Lage in der Bundesrepublik Deutschland wurde vor allem in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre durch die Terroranschläge und die Entführungsaktionen der Rote-Armee-Fraktion (RAF) erschüttert. Wirtschaftspolitisch galt es, die Folgewirkungen von zwei Ölkrisen, den stark defizitären Bundeshaushalt, die zunehmende Staatsverschuldung, die Inflationsentwicklung und die stark angestiegene und sich ab 1975 auf hohem Niveau bewegende Arbeitslosenzahl in den Griff zu bekommen. Außenpolitisch setzte Schmidt den von Brandt eingeleiteten Entspannungskurs gegenüber Osteuropa fort. Deutlich wurde dies in der deutschen Position im Prozess zum Abschluss der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 in Helsinki. Die von Bundeskanzler Schmidt geführte Regierung setzte aber auch eigene Akzente. Dazu zählen die von Schmidt und dem französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing initiierten Treffen der G-7-Staaten im Rahmen des Weltwirtschaftsgipfels (erstmals 1975) oder 1979 die Gründung des Europäischen Währungssystems. Wenngleich der außenpolitische Spielraum der Bundesrepublik Deutschland bis zum Ende der 1970er Jahre gewachsen war, stand ihre Außenpolitik doch unter dem Einfluss der sich spätestens ab 1977 wieder verschärfenden weltpolitischen Spannungen. Denn die sicherheitspolitischen Kontroversen zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion beeinflussten letztlich auch die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen, die nicht mehr die Dynamik der Jahre zwischen 1970 und 1974 erreichten.
1.4 Koalition der Mitte und Politik der Erneuerung
Zu Beginn der 1980er Jahre befand sich die Bundesrepublik Deutschland in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Konzepte zur Reaktion auf die wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen – Rezession, Inflation, Unternehmenszusammenbrüche, Haushaltsdefizit, Arbeitslosigkeit, hohe Steuer- und Abgabenlast – waren gefordert. Die sozial-liberalen Regierungspartner konnten in den Politikbereichen der Wirtschafts- und Finanzpolitik keinen Handlungskonsens mehr herstellen. Zudem hatte Bundeskanzler Schmidt die außen- und sicherheitspolitische Unterstützung seiner eigenen Partei, der SPD, in der Nachrüstungsdebatte verloren. Das
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