Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
erhöht und damit auch die Zahl der Kooperations- und Konfliktmuster. Der ideologische Konflikt zwischen Ost und West ist beendet. Die Länder des früheren Ostblocks beginnen nun den Aufbruch in die Moderne Europas.
Die neuen politischen Führungen haben den Wandel gleichzeitig in drei Dimensionen zu organisieren: vom Totalitarismus zur Demokratie, von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft und von der Blockstruktur zur nationalen Eigenständigkeit. Ihr Blick richtet sich auf der Suche nach Orientierung und Unterstützung sofort auf die Europäische Gemeinschaft. Diese nimmt ihrerseits die Gefahren wahr, die ein Scheitern des Modernisierungsprozesses in Osteuropa für den gesamten Kontinent mit sich bringen würde:
1. Bürgerkriege und autoritäre Rückfälle aufgrund ethnischer, sozialer und wirtschaftlicher Spannungen, wie sie die blutigen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien schmerzhaft vor Augen führen;
2. permanente Krisen im Transformationsprozess Osteuropas mit der Folge des Autoritätsverlustes, sozialer und politischer Anarchie;
3. Verelendung ganzer Bevölkerungsteile durch Massenarbeitslosigkeit und die Beschneidung der sozialen Netze;
4. Massenmigration nach Westeuropa aufgrund der zerrütteten materiellen und politischen Perspektiven.
Nach schwierigen Verhandlungen werden die als Europaabkommen bezeichneten Assoziierungsverträge mit Polen, Ungarn (seit 1994 in Kraft), Tschechien, der Slowakei, Rumänien, Bulgarien und den drei baltischen Staaten (seit 1995 in Kraft) unterzeichnet. Die Abkommen bauen auf den Handels- und Kooperationsverträgen auf, zielen jedoch auf weit über einen reinen Freihandel hinausgehende Vereinbarungen ab. Das Grundkonzept der Abkommen sieht einen flexiblen Stufenplan vor, innerhalb dessen die EG ihre Zoll- und Einfuhrschranken einseitig zügig abbaut und die assoziierten Länder ihrerseits schrittweise die nationalen Märkte für EG-Produkte öffnen. Die Europaabkommen eröffnen den Osteuropäern ferner eine konkrete Beitrittsperspektive zur Europäischen Union. Nach mehreren Jahren der Heranführung werden im Frühjahr 1998 Beitrittsverhandlungen mit Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik, Slowenien und Estland (sowie mit Zypern) aufgenommen. Im Dezember 1999 bekräftigt der Europäische Rat in Helsinki die Bedeutung des Erweiterungsprozesses und beschließt im Februar 2000, bilaterale Regierungskonferenzen einzuberufen, um mit Rumänien, der Slowakei, Lettland, Litauen, Bulgarien und Malta Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
In den osteuropäischen Konstellationswandel eingebettet ist das deutsche Thema. Machtpolitisch wie ideengeschichtlich stellt die Organisation des Zusammenlebens der Deutschen den Schlüssel für die europäische Ordnungspolitik dar – im Positiven wie im Negativen, als Einigungsmotiv wie als Sprengsatz. Die direkteste Wechselwirkung der Einigungsprozesse Deutschlands und Europas besteht in der Beschleunigung der westeuropäischen Integration. Während die Deutschen keinen Zweifel an ihrer Integrationsfreudigkeit aufkommen lassen wollen, haben ihre Nachbarn ein elementares Interesse daran, die deutsche Einheit durch Integration einzuhegen. Als Konsequenz wird konkret ablesbar: Die Geschwindigkeit des Integrationsprozesses erhöht sich.
Am 9. Dezember 1989 bezieht die Europäische Gemeinschaft erstmals substanziell zur deutschen Frage Stellung. In der Erklärung des Europäischen Rates heißt es: »Wir streben einen Zustand des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk seine Einheit durch freie Selbstbestimmung wiedererlangt. Dieser Prozess muss sich auf demokratische und friedliche Weise, unter Wahrung der Abkommen und Verträge, auf der Grundlage sämtlicher in der Schlußakte von Helsinki niedergelegten Grundsätze im Kontext des Dialogs und der Ost-West-Zusammenarbeit vollziehen. Er muss in die Perspektive der gemeinschaftlichen Integration eingebettet sein.« Das Ergebnis der ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990, das als ein markantes Votum für die Einheit verstanden wird, bringt auch für die europäischen Akteure zusätzlichen Schub, den Zug zur Einheit konstruktiv zu begleiten. Der Sondergipfel von Dublin am 28. April 1990 schafft die notwendige Klarheit: Europa sagt Ja zur deutschen Einheit.
Nach außen wirkt der Binnenmarkt wie ein Magnet, auf dessen Pol hin sich die Umwelt ordnet. Sein Gravitationsfeld reicht weit nach Osten. Die innen- wie außenpolitischen Folgen des Binnenmarktes lassen den
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