Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Blick auf die Zollunion hohe produktive Investitionen vor. Ausländische Direktinvestitionen nahmen zu, auch wenn es keinen großen Schub gab. Trotz aller Schwierigkeiten kann die Zollunion als ein Meilenstein auf dem Weg der türkischen Wirtschaftspolitik bezeichnet werden.
Mit dem Abschluss der Zollunion wurden neue Erwartungen, Forderungen und Enttäuschungen generiert. Die Zollunion gab dem Argument Nahrung, dass eine wirtschaftliche ohne eine politische Union undenkbar sei. Dabei hatten europäische Politiker ein automatisches Junktim stets mit Nachdruck abgelehnt. Die diesbezügliche türkische Erwartungshaltung war neben anderen Faktoren ein Grund für die tiefe Enttäuschung über die Entscheidung des Europäischen Rates vom 12. Dezember 1997 in Luxemburg, der Türkei mit Blick auf einen Beitritt zur EU nicht die gleichen Beitrittsaussichten zu gewähren wie anderen ost- und südosteuropäischen Staaten.
Die Äußerungen des Unmutes blieben nicht ohne Wirkung. Die im September 1998 an die Macht gekommene rot-grüne Bundesregierung nahm eine im Großen und Ganzen entspanntere Haltung gegenüber der Türkei ein. In einem Brief an den deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 26. Mai 1999 anerkannte der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit, dass Ankara die 1993 in Kopenhagen formulierten Beitrittskriterien und die Verpflichtungen aus dem Amsterdamer Vertrag erfüllen müsse, ehe Beitrittsverhandlungen beginnen könnten. Vor diesem Hintergrund setzte sich die Bundesregierung für eine Änderung des europäischen Standpunktes ein. Am 10. Dezember 1999 wurde der Türkei in Helsinki der begehrte Status zuerkannt. 2
Der Schwenk der Europäischen Union auf dem Weg von Luxemburg nach Helsinki hat weniger mit Veränderungen innerhalb der Türkei als vielmehr mit der sicherheitspolitischen Einschätzung zu tun. Tatsächlich bietet das Land ein ambivalentes Bild. Sein sicherheitspolitischer Stellenwert im Zentrum der Krisen in Zentralasien/Kaukasus, auf dem Balkan und im Mittleren Osten ist unbestritten. Diese Perspektive aber wird durch die innere Krise und den damit verbundenen Mangel an Stabilität konterkariert. Kern derselben ist die nachlassende Legitimationskraft des Kemalismus als tragende Staatsideologie im Lichte des Aufbrechens überkommener Traditionen Anatoliens, die mit der Gründung des türkischen Nationalstaates verdrängt worden waren. Die im November 2002 an die Macht gekommene Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung verkörpert mit ihrem Bemühen, ein westliches Demokratiemodell mit Elementen der islamischen Religion zu verschmelzen, am sichtbarsten den tiefgreifenden Wandlungsprozess, den das Land durchläuft.
Die Frage nach der Wiederherstellung der inneren Stabilität verbindet sich mit der Berechenbarkeit der türkischen Außenpolitik gegenüber einem regionalen Umfeld, in dessen Zentrum die Türkei der mit Abstand größte Machtfaktor ist. Der Entscheidung von Helsinki liegt vor diesem Hintergrund ein doppeltes, voneinander nicht zu trennendes Interesse zugrunde: die bestehenden Bindungen mit der Türkei zu intensivieren und die Basis einer gemeinsamen Politik mit Blick auf die genannten geographischen Räume zu schaffen sowie einen Beitrag zur inneren Stabilisierung des Landes zu leisten.
Die Zypernfrage kann weiterhin Komplikationen in das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei einbringen, wie der erste Partnerschaftsbericht gezeigt hat, der am 8. November 2000 in Brüssel veröffentlicht wurde. 3 Die EU-Kommission hatte darin die wirtschaftlichen und politischen Reformen aufgelistet, welche die Türkei auf ihrem Weg in die EU durchführen muss.
Ankara reagierte gespalten auf den Bericht. Die damals regierende Drei-Parteien-Koalition konnte sich in wichtigen Fragen nicht einigen, beispielsweise ob Radio- und Fernsehsendungen in Kurdisch zugelassen werden sollten, wie Brüssel es forderte, und ob Meinungsfreiheit nach europäischen Kriterien auch in der Türkei akzeptabel wäre. Dass die EU-Kommission in ihrem Bericht auch die Lösung des Zypernkonfliktes zu den kurzfristigen Kriterien gezählt hatte, ließ die Regierung in Ankara die Beziehung zur Europäischen Union insgesamt infrage stellen. Schließlich folgte Brüssel dem Wunsch Ankaras, die Lösung des Konfliktes von der Liste der zeitlich befristeten politischen Kriterien zu streichen. Das Thema wurde nun in einem neuen Kapitel unter dem Titel »verstärkter politischer Dialog« weiterhin behandelt.
Auf dem
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