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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

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Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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und öffentliche Meinung in der EU so dezidiert polarisiert wie die Türkei.
    Die Gründe dafür sind vielfältig: Im Vordergrund der Wahrnehmung stehen die Unzulänglichkeiten im Bereich von Demokratie und Menschenrechten sowie die Zypernfrage; hingewiesen wird sodann auf die enormen Wirtschafts- und Entwicklungsdefizite, die im Falle des Beitrittes der Türkei eine schwere Belastung für den Haushalt der EU darstellen würden. Befürchtet – obwohl selten offen ausgesprochen – wird zugleich, dass sich eine Welle der Migration in Richtung EU, vor allem in Richtung Deutschland, in Bewegung setzen würde. Zum Dritten schließlich tritt eine unterstellte kulturelle Andersartigkeit ins Bild: Als ein islamisch geprägtes Land teile die Türkei eine europäische Identität nicht, auf deren Grundlage sich die Erweiterung der EU vollziehe.
    Aus türkischer Perspektive ist demgegenüber die Anpassung an Europa das Kernstück des Entwicklungsprozesses, den das Land seit seiner Gründung 1923 durchlaufen hat. Und tatsächlich ist die EU mit keinem der Beitrittsländer über einen so langen Zeitraum verbunden. Die Türkei sei ein Teil Europas, hieß es, als am 12. September 1963 in Ankara ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschlossen wurde. Darin war die Perspektive einer Vollmitgliedschaft unter bestimmten Bedingungen ausdrücklich eingeräumt.

1. Historischer Überblick
    Europa und die Türkei verbindet eine lange Geschichte. Seit das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert auf dem Höhepunkt seiner Macht und Ausdehnung mit europäischen Mächten politische Verträge und Handelsabkommen schloss, wurde Konstantinopel ein Faktor in deren politischem Kalkül. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts begannen im Osmanischen Reich auch kulturelle Einflüsse Europas spürbar zu werden. Der Niedergang des Reiches, der mit der Niederlage der Türken vor Wien im Jahre 1683 einsetzte, ließ gegen Ende des 18. Jahrhunderts die eastern question entstehen. Sie bestand im Wesentlichen im Ringen unter den europäischen Großmächten um die territorialen Beutestücke des geschwächten Reiches auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Nordafrika. Die militärische Unterlegenheit des Osmanischen Reiches gegenüber den europäischen Mächten zwang dessen Staatsführung, einen Modernisierungsprozess nach europäischem Vorbild in Gang zu setzen. Ausgehend vom Militärwesen wurden Elemente des europäischen Rechtes, der Verwaltung, des Erziehungswesens und der Staatsverfassung in die tief vom Islam geprägte politische und gesellschaftliche Ordnung eingeführt. Nach der Revolution der Jungtürken (1908) beschleunigte und vertiefte sich dieser Prozess noch.
    Für Mustafa Kemal Atatürk (1882 bis 1938), der bedeutendsten Gründerfigur der modernen Türkei, war Modernisierung gleichbedeutend mit einer Europäisierung ohne Wenn und Aber. In den Jahren nach 1923 setzte er eine Reihe radikaler Reformen durch, die darauf abzielten, das Land von der Erbmasse eines maroden islamischen Imperiums in einen europäischen Nationalstaat zu transformieren. Tatsächlich hat sich kein anderes islamisches Land Nordafrikas und des Nahen Ostens derart tief greifend europäisiert.
    Außenpolitisch versuchte die türkische Staatsführung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, einen Kurs strikter Neutralität zu steuern. Angesichts des sich danach rasch ausbildenden Ost-West-Konfliktes, der von Anfang an eine militärische Bedrohung der Türkei durch die Sowjetunion beinhaltete, war eine derartige Politik nicht länger durchzuhalten. Die Türkei wurde nun Zug um Zug Mitglied westlicher, darunter auch europäischer Organisationen: Im April 1948 gehörte Ankara zu den Gründern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa ( Organization for European Economic Cooperation , OEEC), und am 8. August 1949 trat das Land (zusammen mit Griechenland) dem Europarat bei. Dasselbe gilt für alle anderen (west-)europäischen Zusammenschlüsse jener Jahre von der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bis zur
Europäischen Zahlungsunion. Am 18. Februar 1952 stimmte das türkische Parlament – bei nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung – dem NATO-Beitritt zu.
2. Aktuelle Situation
2.1 Politisches System
    Die kemalistischen Reformen wurden zunächst im Rahmen eines Ein-Parteien-Systems durchgesetzt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges öffnete sich dieses zu einem Mehrparteiensystem, das durch

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