Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
herstellen. Seit Mitte der 1960er Jahre folgten behutsame, aber umfassende Reformen in der Wirtschaft, der Kultur und später auch in der Politik. So haben die ungarische Wirtschaft und Gesellschaft das Wendejahr 1989 nicht nur in einem »reiferen« Zustand erreicht als die anderen mittel- und osteuropäischen Länder, sondern zu diesen Entwicklungen erheblich beigetragen. Das letzte Jahrzehnt wurde durch die rasche Reintegration in das bestimmende europäische und globale System geprägt.
2. Aktuelle Situation
2.1 Politisches System
Ungeachtet der grundlegenden Transformationen und der historisch beispiellos kurzen Zeit des Überganges zu marktwirtschaftlichen Strukturen, zeichnet sich Ungarn durch ein hohes Maß an innenpolitischer Stabilität aus. Die Bevölkerung hat in den letzten Jahren sowohl ihre materiellen wie psychologischen Reserven mobilisiert und die wirtschaftlichen Programme der Regierung nicht nur »erlitten«, sondern auch aktiv mitgestaltet.
Das ungarische Parlament besteht aus einem Haus (Landtag). Insgesamt 386 Parlamentsmitglieder werden vom Volk für vier Jahre gewählt. Das
Wahlsystem ist eine komplizierte Kombination von Parteilisten und individuellen Wahlbezirken. Das Parlament besitzt die Kompetenz der Gesetzgebung und kann, ebenso wie der Präsident der Republik und die Regierung, neue Gesetzesinitiativen unterbreiten. Die meisten Kompetenzen liegen bei der Regierung, während der Wirkungsbereich des Staatspräsidenten begrenzt ist. Doch immerhin kontrolliert dieser die Streitkräfte und kann das Parlament auflösen, wenn es der amtierenden Regierung viermal in einem Jahr sein Vertrauen entzieht, oder aber wenn das neu zusammengetretene Parlament den neuen Ministerpräsidenten binnen 40 Tagen nicht bestimmen kann. Nach Auflösung des Parlamentes sind neue Wahlen innerhalb von drei Monaten abzuhalten. Im Falle einer Notstandssituation kann das Parlament jedoch nicht aufgelöst werden.
Dem Parlament kommt eine wichtige Rolle bei der Auswahl und Kontrolle der Leiter der exekutiven Macht zu. Der Staatspräsident wird vom Parlament für eine Dauer von fünf Jahren gewählt und kann ein Mal wiedergewählt werden. Das Mandat des 1995 wieder gewählten Präsidenten Árpád Göncz lief im August 2000 ab. Ihm folgte in dieser Position Ferenc Mädl.
Seit dem Systemwandel gab es fünf demokratische Wahlen in Ungarn (1990, 1994, 1998, 2002 und 2006), die immer unter Beachtung der demokratischen Spielregeln abgehalten wurden. Als Ergebnis der Wahlen im April 2002, mit einer Wahlbeteiligung von über 70 Prozent, ergaben sich folgende Sitzverhältnisse im Parlament: Allianz der Jungen Demokraten-Ungarische Bürgerpartei (FIDESZ-MPP) im Wahlbündnis mit dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) 188 Sitze (48,7 Prozent), Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) 178 Sitze (46,1 Prozent) und Allianz der Freidemokraten (SZDSZ) 19 Sitze (4,9 Prozent). Dazu kam noch ein Sitz für den gemeinsamen Kandidaten der MSZP-SZDSZ (0,3 Prozent). Zwei früher im Parlament vertretene Parteien konnten die 5-Prozent-Hürde nicht überwinden. Der frühere Bündnispartner der FIDESZ-geführten Koalition 1998 – 2002 war praktisch verschwunden und die rechtsextreme Partei des Ungarischen Lebens und Wahrheit (MIEP) hatte die Parlamentsgrenze knapp verfehlt. Es wurde eine sozialliberale Koalition (MSZP-SZDSZ) gebildet, die über eine kleine, aber ausreichende Mehrheit von 198 gegenüber 188 Sitzen im Parlament verfügte. Um jedoch die wichtigsten Gesetze, teilweise in Verbindung mit der Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft, zu verabschieden, brauchte man eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die jedoch nur mit Hilfe der Opposition zustande kommen konnte. Im April 2006 wurde in Ungarn zum fünften Mal seit dem Systemwandel gewählt.
Im politisch-administrativen Leben Ungarns kommt den insgesamt 3 160 Selbstverwaltungen eine Schlüsselrolle zu. Ihre Vertreter werden immer im
gleichen Jahr wie das Parlament gewählt. Die Wahlen im Oktober 2002 bekräftigten die starke demokratische Grundlage des ungarischen Systems, indem die meisten Bürgermeister als parteiunabhängige Repräsentanten gewählt wurden. In der im politischen Leben bestimmenden Hauptstadt wurde der frühere Bürgermeister (SZDSZ) zum vierten Mal wieder gewählt (46,7 Prozent der Stimmen). Die Selbstverwaltungswahlen hatten die Position der neuen Koalition erheblich gestärkt und nach dem knappen Wahlergebnis der Parlamentswahlen den Wunsch der Gesellschaft nach
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