Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
als zwar nicht leichter, aber praktikabler Schritt an. Ein gewaltiger Kraftakt gerade auf türkischer Seite machte es möglich, dass der Assoziationsrat EU-Türkei am 6. März 1995 die Zollunion beschließen konnte. Im Dezember ratifizierte das Europäische Parlament diese Entscheidung trotz großer Bedenken und unter der Auflage, dass die Türkei Fortschritte bei der Vertiefung der Demokratie und der Einhaltung der Menschenrechte machen müsse. Damit konnte die Assoziierung am 1. Januar 1996 in die Endphase eintreten.
2.3 Eine schwierige Partnerschaft
In der Türkei hat es spätestens seit dem Beginn der 1970er Jahre immer erhebliche Widerstände gegen ein Aufgehen in Europa gegeben. Auf europäischer Seite war die Einstellung zur Perspektive einer Vollmitgliedschaft der Türkei ebenfalls nicht einhellig. Alles in allem überwog doch eine eher skeptische bis ablehnende Haltung. Dass in dem latenten Unbehagen bei vielen auch die Frage mitschwang, ob denn die Türkei als »islamisches Land« wirklich zu Europa gehöre, ist Eingeweihten nicht verborgen geblieben.
Der vorherrschenden Skepsis steht eine positive Einschätzung einer »neuen Rolle« der Türkei nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes gegenüber. Sie geht von der Veränderung der politischen »Großwetterlage« aus. Das Land liegt nun nicht mehr am Rand des westlichen Bündnisses; mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Sozialismus, der die gesamtpolitische Konstellation auch auf dem Balkan und im Mittleren Osten bestimmte, wächst der Türkei eine Mittellage zwischen Europa, dem Mittelmeerraum bzw. Mittleren Osten und Zentralasien zu. Mit ihrer gesamten Nachbarschaft ist die Türkei auf vielfältige Weise durch ethnische, geschichtliche, religiöse und kulturelle Bande verbunden.
Auch auf türkischer Seite ist die Perspektive mit Blick auf Europa nicht ungetrübt. Insbesondere die Stärkung der religiösen Kräfte seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre führte zu einer intensivierten Diskussion um Alternativen zur Anbindung an Europa im Besonderen und dem Westen im Allgemeinen. Die Islamisten, die in der Türkei selbst unter dem Motto der »gerechten Ordnung« (adil düsen) das laizistische zu Gunsten eines islamischen Regimes ablösen wollten, suchten nach einer stärkeren Einbindung in den Kontext islamischer Länder. Auch außerhalb der islamistischen Kräfte sind Kritik und Desillusionierung an der Beziehung zu Europa laut geworden. Nationalistisch gesinnte Kreise fühlten sich von der EU herumgestoßen; aber auch liberale Kräfte monierten die »einseitig« auf Menschenrechts-und
Demokratiedefizite ausgerichtete europäische Kritik und vermissten die Vermittlung einer klaren Perspektive in Bezug auf die Vollmitgliedschaft des Landes.
Dennoch hält die Mehrheit innerhalb der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite am Ziel einer Vollmitgliedschaft als Endstadium des von Atatürk begonnenen Modernisierungs- und Verwestlichungsprozesses fest. So nahm die Führung im Juli 1995 eine Reihe jener Veränderungen ihrer Verfassung vor, die vor allem seitens des Europäischen Parlamentes im Hinblick auf eine weitere Demokratisierung immer wieder gefordert worden waren. Mit der Herstellung der Zollunion, die am 1. Januar 1996 in Kraft trat, wurde eine Nähe der Wirtschaftsbeziehungen etabliert, wie sie bei keinem der Beitrittskandidaten gegeben war. Dabei handelt es sich um ein rein wirtschaftliches Abkommen. Zwischen beiden Seiten sind die Zollschranken gefallen, und die Türkei hat ihre Wirtschaftsgesetzgebung weitgehend an die Europas angepasst. Bereits 1996 nahm das Handelsvolumen zwischen der EU und der Türkei von 27 (1995) auf 36 Milliarden US-Dollar zu; 1998 lag es bei 50,5 Milliarden US-Dollar. Aufgrund der Wirtschaftskrise in der Türkei war es 2001 auf 34,4 Milliarden US-Dollar zurückgefallen.
Mit der Zollunion war zunächst die Befürchtung verbunden, weite Teile der türkischen Industrie würden unter Wellen aus der EU importierter Waren zusammenbrechen. Zwar stiegen die türkischen Einfuhren aus der EU nach Vollendung der Zollunion stark an; aber es wuchsen auch, wenngleich gemäßigter, die türkischen Ausfuhren dorthin. Die bilateralen Handelsbeziehungen Türkei-EU wiesen auf der türkischen Seite hohe Defizite auf, die jedoch von der Türkei in hinreichendem Maße ausgeglichen werden konnten, teils durch Exporte in andere Länder, teils durch Tourismuseinnahmen. In wichtigen Branchen nahmen türkische Unternehmen mit
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