Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
einem anderen Land in Europa Kultur- und Staatsnation schon frühzeitig zusammengewachsen waren, dessen Sprache einem hohen, seit Beginn des 17. Jahrhunderts staatlich geförderten Vereinheitlichungsdruck ausgesetzt gewesen war; war nicht die Academie Française 1635 gegründet worden, weil zur Einheit des Staates auch die Einheit der Sprache gehörte?
Neben der Sprache war es die Geschichte, die eine Volksnation ausmachte: das gemeinsame Schicksal, das ein Volk seit den frühesten Anfängen der Überlieferung vereinte und das ein untrennbares Band um die Nation schlang. Die Nation legitimierte sich aus ihrer Geschichte; Revolution, Krieg, Gewalt gegen alle, die der Nation nicht angehören wollten oder sich ihrem Einigungsbestreben widersetzten – alles das schien gerechtfertigt, wenn sich die Nation auf geheiligtes altes Recht berufen konnte, und dies um so mehr, je weniger die Nation über gefestigte Institutionen verfügte: »Denn unsere Gegenwart«, so proklamierte beispielsweise der serbische Nationalist Ilija Garasanin in seiner programmatischen Denkschrift »Načertanije« 1844, »wird nicht ohne Verbindung zur Vergangenheit sein, sondern sie (Vergangenheit und Gegenwart) werden ein zusammenhängendes, integrierendes, aufeinander aufbauendes Ganzes darstellen, und darum steht das Serbentum, seine Nationalität und sein staatliches Leben, unter dem Schutz des heiligen historischen Rechtes. Unserem Streben kann man nicht vorwerfen, dass es etwas Neues, Unbegründetes, dass es Revolution und Umsturz sei, sondern jeder muss anerkennen, dass es politisch notwendig ist, dass es in sehr alter Zeit begründet wurde und seine Wurzel im geschichtlichen staatlichen und nationalen Leben der Serben hat« 3 .
Der Gedanke war an sich nicht neu; auch auf früheren Entwicklungsstufen hatte sich Nationalbewusstsein an mythisch verbrämter Geschichte ausgebildet: Alle heldenhaften Eigenschaften der Franken sollten von trojanischen und römischen Vorfahren herrühren, auf Karl den Großen führten sich die Herrscher östlich wie westlich des Rheins zurück, die Artus-Sage bildete den Kern jenes volkstümlichen Geschichtsbildes, mit dem sich die
Tudor-Könige legitimierten. Aber mit dem Eintritt in die Moderne um 1800, mit der Geburt und der Entwicklung der Volksnationen, mit der rasanten Beschleunigung des Gegenwartserlebnisses und der zunehmenden Unsicherheit der Zukunftserwartungen im beginnenden Zeitalter der Industrialisierung wuchs das Bedürfnis nach Geschichte. Alle Lebensbereiche wurden von einer romantischen Vergangenheitssehnsucht überwuchert, die Gegenwart schien sich ausschließlich aus ihren geschichtlichen Wurzeln zu rechtfertigen.
Die neue Idee von der einen, unteilbaren und unveränderlichen Nation, geboren aus dem uralten Geist des Volkes, bedurfte daher der Begründung durch ein homogenes, in sich zusammenhängendes, von Zweifeln und Unsicherheiten geläutertes Geschichtsbild, aus dem sich die schicksalhafte Kontinuität ablesen ließ, welche die Nation für alle Zeiten rechtfertigte: Das nationale Geschichtsbewusstsein, das gilt für alle europäischen Nationen, ist deshalb das Ergebnis höchst selektiver Erinnerung und der Konstruktion national gesinnter Historiker.
So lässt sich zusammenfassend für den größten Teil des 19. Jahrhunderts sagen: Die europäischen Nationen waren, mit den Worten Benedict Andersons, »imagined communities« 4 , gedachte Gemeinschaften, geplant von Intellektuellen und Politikern, vorangetrieben von einer Vielzahl bürgerlicher Vereine und Parteien, propagiert in den Spalten der liberalen Presse und von den Tribünen der Parlamente. Inwieweit die Nationen allerdings geistige und gesellschaftliche Wirklichkeit waren, darüber wissen wir mangels ausreichender mentalitätsgeschichtlicher Studien immer noch zu wenig. Vieles spricht aber dafür, dass dieser »Risorgimento-Nationalismus« Sache relativ begrenzter Eliten war und erst sehr langsam in das allgemeine Bewusstsein eintrat.
Dass die Idee der Nation, um mit Marx zu sprechen, die Massen ergriff und zur materiellen Gewalt wurde, ergab sich im deutsch-französischen Fall erstmals mit der Rheinkrise von 1840. Das erste Mal gab es beiderseits des Rheins einen manifesten Massennationalismus, der die Regierungen ein Stück weit mitriss und ihnen das Handeln aufzwang, bis an die Grenze des Krieges. Hier wurde sichtbar, dass die staatliche Integration mit Hilfe der Nationalidee zweifach bezahlt werden musste. Zum Ersten war
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