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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

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Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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damit die Zeit kühl kalkulierender Kabinettspolitik endgültig vorbei; keine Regierung, auch in nicht-demokratischen Staaten, konnte sich auf Dauer halten, wenn sie nicht die Stimmungen und Wünsche des Massennationalismus berücksichtigte. Zum Zweiten wurde die nationale Identität dialektisch von der Nicht-Identität bestimmt: Die Nation bedurfte, um sich selbst zu definieren, eines Feindes, und die Feindschaft wurde um so totaler, je totaler
die nationale Integration war. Bereits im Verlauf der Freiheitskriege von 1813 hatte sich in Deutschland das Bild des satanischen, des metaphysisch entgegengesetzten »Erbfeindes« Frankreich entwickelt, und im Verlauf der Rheinkrise von 1840 wurde in der deutschen Presse ernsthaft erörtert, ob man in Deutschland für die Hochwassergeschädigten in Lyon Geld sammeln solle oder nicht – das heißt, nicht mehr die Gemeinschaft unverschuldet in Not geratener Menschen sollte zählen, sondern deren Zugehörigkeit zu einer »feindlichen« Nation, der gegenüber christliche Nächstenliebe oder philosophischer Altruismus nicht mehr unbedingt zu gelten hatten.
    Damit kündigte sich in der Geschichte des europäischen Nationalismus eine neue Entwicklungsstufe an, die mit Charles Maurras als »integraler Nationalismus« 5 bezeichnet werden kann. Während der hauptsächlich von einer Honoratioren-Minderheit getragene »Risorgimento-Nationalismus« des 19. Jahrhunderts grundsätzlich liberale Züge trug und von einer Gleichberechtigung der nationalen Ansprüche aller Völker ausging, setzte der massenhafte »integrale Nationalismus« die Nation absolut: »Du bist nichts, Dein Volk ist alles«; »La France d’abord«; »Right or wrong, my country«, so oder ähnlich lauteten die Gebote, auf die der integrale Nationalismus seine Gläubigen verpflichtete und mit denen er auch die physische Gewaltanwendung gegen Andersgläubige legitimierte.
    Es ist allerdings kaum möglich, eine klare zeitliche Trennung zwischen diesen beiden Haupttypen des modernen europäischen Nationalismus zu ziehen. Bereits die radikale, jakobinische Variante des Nationalismus in der Französischen Revolution hatte totalitäre Züge aufgewiesen: Die Nation war une et indivisible , egalitär und homogen; wer sich nicht emphatisch zu ihr bekannte, war ihr Feind und musste mit dem Tod rechnen. Als verbreitetes politisches Phänomen ist allerdings der integrale, der totalitäre Nationalismus wesentlich jünger. Er benötigt den bereits verwirklichten Nationalstaat als Entfaltungsraum. Das typische Beispiel ist die »verspätete Nation« (Helmuth Plessner) Deutschland, das die Neigung besaß, sich im Hinblick auf die Aufteilung der kolonialen Welt als benachteiligt zu empfinden und kollektive nationale Minderwertigkeitsgefühle durch aggressiven Nationalismus zu kompensieren. Als charakteristisch für diese Phase gilt die Verschiebung der Nationalidee vom »linken« in den »rechten« Abschnitt des innenpolitischen Spektrums, das Auftreten nationalistischer Massenorganisationen wie der Deutschen Kolonialgesellschaft, des Deutschen Flottenvereins oder des Alldeutschen Verbandes und ein überschäumendes missionarisches Selbstbewusstsein. Hinzu kommt die Idee der Klassensolidarität als linke Sinnstiftungskonkurrenz der Nationalidee: So wird die Idee der Nation, bis dahin ein alle Parteien überwölbender ideologischer Überbau, zur
innenpolitischen Partei als Abwehrfront gegen den »internationalistischen« Sozialismus. Ahnliches gilt für den ultramontanen Katholizismus und, in besonders krasser Form, für das angeblich »internationale« Judentum. Zum außenpolitischen »Erbfeind« gesellt sich der innenpolitische Gegner, der als Gefahr für das Bestehen der Nation schlechthin angesehen wird. Um den Kampf im Innern erfolgreich führen zu können, neigt man dazu, außenpolitische Reibungen künstlich zu verstärken, weil auf diese Weise innere Loyalität gegenüber der Nation erzwungen wird: So schaukeln sich die innen- und die außenpolitischen Konflikte gegenseitig auf.
    Bei dem Blick auf das deutsche Modell darf aber nicht übersehen werden, dass der integrale Nationalismus, wenn auch in unterschiedlichen Erscheinungsformen, ein gesamteuropäisches Phänomen darstellte. Ähnliche Entwicklungen wie in Deutschland ließen sich zur gleichen Zeit in Großbritannien feststellen; Navy League, Greater Britain und Jingoismus waren parallele Erscheinungen, wie beispielsweise auch in Italien die Associazione Nazionalista

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