Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Italiana, die Italia irredenta oder das Schlagwort vom mare nostro. Und für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gilt, dass kein Land Europas ohne eine starke faschistische Bewegung blieb.
Wie kommt es zum Auftreten des integralen Nationalismus und seines Nachfolgers, des Faschismus? Nach einer These Eugen Lembergs gehört zu den Voraussetzungen eine Krise des nationalen Selbstbewusstseins, eine außerordentliche Bedrohung von außen, eine wirkliche oder vermeintliche Gefahr für die nationale Existenz. 6 Das ist vor allem immer dann der Fall, wenn eine Nation eine schwere politische oder militärische Niederlage erlitten hat, die ihr Selbstgefühl verletzt und in der Folge davon die für den Fortbestand der Nation notwendige Integrationskraft schwinden lässt. Auf die vermeintliche Gefahr ihrer Desintegration reagiert die Nation mit einer totalitär zugespitzten Übersteigerung des Nationalismus. Das gilt nicht nur für die deutsche Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg, sondern bis zu einem gewissen Grad auch für die französische Situation nach dem Krieg 1870/1871. Allerdings wird man Lembergs These dahin ergänzen müssen, dass auch wirtschaftliche und soziale Systemkrisen günstigen Nährboden für integralen Nationalismus bieten; der Zusammenhang zwischen der Weltwirtschaftskrise seit 1928 und dem Erstarken faschistischer Bewegungen in ganz Europa ist jedenfalls manifest.
Die vom Nationalsozialismus ausgelöste Katastrophe hat dazu beigetragen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das Ende der Nationalstaatlichkeit gekommen zu sein schien, während zugleich in der Dritten Welt das Nationalprinzip Triumphe feierte. Die Einigung des freien Teiles des Kontinentes schien greifbar nahe zu sein, und es gehört zu den größten Enttäuschungen
der Nachkriegszeit, dass trotz beachtlicher wirtschaftlicher und politischer Integrationserfolge das Prinzip des Nationalstaates unerschütterlich seine Rechte behauptet hat. Dies um so mehr, als wir heute vor einer Wiederkehr Europas stehen, mit der auch manches zurückkehrt, was bisher mitsamt Alteuropa dem Untergang geweiht schien.
3. Staaten
Um der Idee der Nation lang wirkende Dauer und politische Macht zu verleihen, bedurfte es des territorialen und institutionellen Rahmens in Gestalt des Staates. Der Nationalstaat, so Max Weber, sei »die weltliche Machtorganisation der Nation« 7 . Im Nationalstaat will das Staatsvolk nicht mehr einfach die zufällige Summe aller Angehörigen eines Staates sein; das Volk ist vielmehr eins mit der Nation, die sich nicht nur als kulturelle, sondern auch als politische Gemeinschaft sieht. Die Volksnation erhebt den Anspruch, sich in ihrem eigenen Staat selbst zu verwirklichen und zu entfalten; im Nationalstaat ist sie frei, sich selbst zu regieren, und sie ist frei von jeder fremden Herrschaft.
Dass ein Staat als Nationalstaat verfasst sein sollte, war noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich. Auch der Staat war, wie die Nation, ein Ergebnis der europäischen Geschichte, ein politisches Konzept, das Wandlungen unterworfen war und keineswegs, wie noch Leopold von Ranke glaubte, ein uraltes ewig-menschliches Organisationsprinzip, »Gedanke Gottes«. Nicht Staaten auf territorialer Basis kannte das mittelalterliche Europa, sondern Personenverbände auf Grundlage des persönlichen Lehnseides. Staaten, wie wir sie kennen, sind auf Dauer angelegt, überpersönlich und an Institutionen gebunden; der mittelalterliche Personenverband dagegen war zeitlich begrenzt, fand sein Ende beim Tod von Lehnsherr oder Vasall und musste deshalb immer wieder neu begründet werden.
Der moderne europäische Staat hat sich aus dem mittelalterlichen Personenverband entwickelt. Weil sich das Lehnswesen hauptsächlich im karolingischen Reich herausgebildet hat, fand die Entwicklung europäischer Staatlichkeit in erster Linie in jenen Territorien statt, welche die Nachfolge des Reiches Karls des Großen antraten oder die von diesen Territorien aus erobert wurden: also in Frankreich, Deutschland, Spanien, England, Italien, den Normannenstaaten der Normandie und Siziliens. Dieser Übergang vom feudalen Personenverband zum Flächenstaat mit mehr oder weniger zentralisierter und bürokratisierter Machtausübung war ein Prozess, der sich in
unübersichtlich vielen und kleinen Entwicklungsschritten über die Jahrhunderte hinwegzog. Aus den Tausenden Quellen, die sich in den Archiven zur Steuerpolitik, der Heeresorganisation, der Rechtsprechung etc.
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