Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
stapeln, ergibt sich kein geschlossenes Bild; sie machen uns nicht völlig deutlich, wie sich zahlreiche Verwaltungsbereiche und -aufgaben bildeten und entwickelten, wie sie von der Kirche und der Stadt auf den Staat oder vom Lehnsmann auf den Fürsten übergingen. Das Lehen verlor seinen personalen Charakter und wurde zur Sache, zu einem Besitz, den die Lehnsherren im Laufe des Hochmittelalters wieder an sich zu bringen suchten, um ihn ihrem eigenen Vermögen hinzuzufügen und ihre Gesamtherrschaft wieder herzustellen. Die Lehnsmänner dagegen suchten ihr Lehen in dauerhaftes, vererbbares Gut umzuwandeln. So entstanden zwei Vermögensarten als Grundlage politischer Herrschaft: Dem König gehörte das Kronvermögen, das einen erheblichen Anteil des Bodens umfasste; daneben gab es das Lehnsgut, an dem der König zwar die Oberhoheit behielt, das aber erblicher Besitz der Lehnsleute wurde. So entwickelte sich aus dem Lehnsverband der Ständestaat: Fürst und Lehnsleute teilten sich die Macht über Grund und Boden.
Während der König oder Landesfürst seine Macht auszubauen versuchte, schlossen sich die anderen Herrschaftsträger zu gemeinsamem Handeln zusammen. Weltlicher und geistlicher Adel, die aufstrebenden Städte, in einigen Staaten sogar die freien Bauern traten dem Landesfürsten als Stände entgegen, die auf Landtagen ihre Rechte gegenüber dem Fürsten behaupteten und in dessen Machtansprüche sie einzugreifen suchten. Das Staatswesen, das in West- und Mitteleuropa seit dem späten Mittelalter langsam an Gestalt gewann, unterschied sich von den politischen Gebilden anderer Kontinente durch die Doppelmacht von Krone und Ständen; die Staatengeschichte Europas war bis zur Schwelle zum 19. Jahrhundert von dem dauernden Konflikt zwischen Krone und Ständen um Verwaltung, Finanzen, Rechtsetzung und das Monopol der legitimen Gewalt nach innen wie nach außen geprägt.
Wie sich bereits im Verlauf der frühen Neuzeit Vorformen nationalstaatlicher Organisationen herausbildeten, lässt sich vor allem in Westeuropa zeigen, beispielsweise im Falle Spaniens, Frankreichs oder Englands. Namentlich in England war seit dem Ende der Rosenkriege und dem Beginn der Tudor-Herrschaft die staatliche Integration weit fortgeschritten. Der König war der größte Grundherr im Lande, konnte also seine Herrschaft auf eine starke Hausmacht und erhebliche Einnahmen stützen. Die durchgreifende Behördenorganisation, die Thomas Cromwell als Vertrauter Heinrichs VIII. durchführte, vereinheitlichte den königlichen Herrschaftsapparat; das Steuer-und Gewaltmonopol der Krone war unangefochten, und die Justices of Peace ,
die königlichen Richter, reisten durch das Land und sorgten im Namen der Krone für Recht und Ordnung.
Diese im Vergleich zum europäischen Festland fortgeschrittene staatliche Konzentration machte der Bevölkerung bis auf das Land hinaus bewusst, dass dieses Land in der Person des Königs nur einen Herrn besaß; seit Heinrich VII. war klar, dass der König Herrscher des gesamten englischen Volkes war und nicht nur Haupt einer Adelspartei. Die Krone war nicht allein als machtvolle Institution stets präsent, sie wusste sich auch symbolkräftig darzustellen. Von der Geschichtsschreibung bis zum Straßentheater wurden die Dynastie und ihr sagenhafter Ursprung in Troja, Rom und Camelot gefeiert; zum Einklang von Krone und Nation trug zudem seit der Reformation die Rolle des Königs als Oberhaupt der Kirche bei.
Und da war das Parlament, in dem sich die Einheit von Königreich und Nation manifestierte. Wie die Lobredner der Tudors nie müde wurden zu betonen, war jeder Untertan der Krone im Parlament präsent, entweder in Person oder in Vertretung – noch lange nicht durch eigene Wahlentscheidung, aber doch kraft seines Wohnsitzes. Es bestand Übereinstimmung, dass alles, was das Parlament tat, die Zustimmung von jedermann im Lande besaß. Das Parlament, das – noch für lange Zeit nur in königlichem Auftrag – Gesetze für das gesamte Königreich erließ und die königlichen Steuern autorisierte, war eine politische Institution, in der sich die partikularistischen Interessen des Landes trafen und – so jedenfalls die Theorie – zum Gemeinwohl zusammenfanden: Beweis für die Realität der englischen Nation. Die politischen Institutionen Krone und Parlament schufen die englische Staatsnation, Rahmen und Voraussetzung der Kulturnation, die ihrerseits die Staatseinrichtungen legitimierte und festigte. Mit den
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