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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

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Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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Institutionen des Staates gewann die Idee der Nation an selbstverständlicher Anschauung; die patriotischen Empfindungen der Engländer mussten sich nicht an Mythen halten und die nationale Einheit in der Imagination entwerfen, sondern konnten sich in der gelassenen Darstellung der politischen Institutionen des Landes äußern: »Sehet nun diesen großen Staat, ein Staat der Zuflucht, das Haus, in dem die Freiheit wohnt, mit starkem Schutz umgebend.« 8
    Ähnliches gilt auch für andere große westeuropäische Staatswesen. Anders verlief dagegen die Entwicklung in dem europäischen Streifen zwischen Jütland und Sizilien: Von staatlichen Institutionen, an die sich eine Kulturnation anzulehnen vermochte, konnte in Mitteleuropa nicht die Rede sein. Dass sich in diesem Raum nicht zur gleichen Zeit wie im übrigen Europa eine moderne Großmacht entwickeln konnte, hatte mehrere Gründe: kein natürlicher Mittelpunkt, keine natürlichen Grenzen. Das Land zerfloss, war offen nach allen Seiten, zudem in seiner Verkehrsgeographie durch Flüsse
und Gebirge zerhackt. Kein anderes Land hat im Laufe seiner Geschichte so viele Hauptstädte gehabt wie Deutschland: Aachen, Speyer, Goslar, Frankfurt, Nürnberg, Prag, Wien, Berlin, Bonn. Und welches die deutschen Grenzen seien, darüber hat es bis zur Gründung des zweiten deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 nie eine klare Antwort gegeben. Gewiss, zu Beginn des 16. Jahrhunderts kam es unter den habsburgischen Kaisern Maximilian I. und vor allem Karl V. zu einem Anlauf, um aus dem transnationalen, eher metaphysischen Gebilde des Heiligen Römischen Reiches so etwas wie einen geschlossenen deutschen Staat zu entwickeln. In der Folgezeit jedoch wurde die deutsche Einheit Opfer von Reformation und Gegenreformation; während in allen anderen Staaten Europas der Kampf zwischen den Konfessionen zugunsten der einen oder der anderen entschieden wurde, blieb er in Deutschland in der Schwebe, versteinerte gewissermaßen im territorialstaatlichen Prinzip des cuius regio, eius religio und überwölbte die territoriale durch die konfessionelle Spaltung – mit Folgen für die politische Kultur der Deutschen, die bis in die Gegenwart hinein sichtbar geblieben sind.
    Diese Zersplitterung blieb das Prinzip der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches, eines Gebildes ohne eigene Staatlichkeit, Organisation und Macht, was alles auf die Territorien und Reichsstädte übergegangen war. Was über die mehr als dreihundert Territorialstaaten und Freien Städte hinaus Einheit stiftete, war das Bewusstsein gemeinsamer Sprache und Kultur – eine Kulturnation also, die jedoch bei weitem nicht den inneren Zusammenhalt der westeuropäischen Kulturnationen besaß, die sich an dauerhafte staatliche Institutionen anlehnen konnten. Ähnliches galt für Italien: Auch hier überdauerte der einzelstaatliche Provinzialismus. Die Italia erudita, das gelehrte Italien, war ähnlich wie Deutschland eine Kulturnation, eine reine Gelehrtenrepublik, fern von jeder gesamtstaatlichen Gestalt.
    Auch Osteuropa zeigte am Ende des 18. Jahrhunderts typische Strukturen: Hier dominierten die transnationalen Großreiche, die Habsburger Monarchie, das russische Zarenreich und das Osmanische Reich – seit den polnischen Teilungen lässt sich in gewisser Weise auch Preußen hinzuzählen. Hier schlummerte unter dem nivellierenden Druck der Herrenvölker, der Deutschen, Russen und Türken, eine Vielzahl potenzieller Nationalkulturen, denen aber in aller Regel die Eliten fehlten, die in Mittel- und Westeuropa Träger kulturnationaler Identität waren und die auf das Niveau ländlicher Volkskulturen zurückgedrückt waren – darunter solche, die im Gegensatz zu dem Diktum von Karl Marx von den »geschichtslosen Völkern« Osteuropas in der Vergangenheit bereits weit auf dem Weg zu nationaler und kultureller Identität vorangekommen waren, wie etwa Polen,
Böhmen, Ungarn oder Serben. Die osteuropäischen Reiche verneinten in ihrer Regierungsweise Individualrechte sowie Rechte nationaler Kollektivindividuen prinzipiell. Sie beruhten vielmehr auf despotischer Machtausübung – gemäß der Erkenntnis Montesquieus, dass große Reiche despotische Autorität erforderten, deren rasche Entschlüsse die weiten Entfernungen auszugleichen hätten, wohingegen die kleinteilige Vielfalt Westeuropas keine unumschränkte Macht ertrage.
    So bestand Europa, was die Entstehung seiner Nationen anging, aus drei sehr verschiedenen gestalteten Regionen, die mit

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