Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in das Zeitalter der weltgeschichtlichen Umwälzungen seit Ende des 18. Jahrhunderts eintraten, das wir als die »Achsenzeit« zwischen dem agrarischen, ständisch gegliederten Alteuropa und dem Europa der industriellen Massenzivilisation unserer Gegenwart kennen. Im Verlauf dieser Umwälzung kam die Idee der Nation zu einer völlig neuen revolutionären und revolutionierenden Bedeutung und ergänzte den modernen Staat zum Nationalstaat.
4. Nationalstaaten
    Von voll ausgebildeten Nationalstaaten konnte zuerst nur in Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, den Niederlanden und Schweden, also in West- und Nordeuropa die Rede sein. Dass hier im frühen 19. Jahrhundert nach den stürmischen Umwälzungen von Revolution und napoleonischen Kriegen bereits weitgehend ausgebildete Nationalstaaten in die Geschichte eintraten, hatte einleuchtende Gründe. In all diesen Fällen gab es seit langem gefestigte, in sich nicht nur politisch-administrativ, sondern auch kulturell geeinte Staatswesen, deren Herrschaftseliten sich bereits seit Jahrhunderten als »Nationen« verstanden hatten. Seit den inneren Umwälzungen der Glorious Revolution in England von 1688 und der großen Revolution in Frankreich von 1789 hatten sich nach und nach diejenigen Bevölkerungsschichten verbreitert, die direkt oder indirekt durch Wahlen oder Plebiszite an der staatlichen Macht teilhatten – mit anderen Worten: Die einstigen »Adelsnationen« hatten sich in »Volksnationen« verwandelt oder waren auf dem Weg dahin. Hier wurde deutlich sichtbar, was auch für das übrige Europa im Großen und Ganzen galt: Die Idee der Nation war die notwendige Antwort auf den Weg Europas in die Moderne; je mehr Menschen politisch bewusst wurden und die Möglichkeit besaßen, sich politisch zu betätigen und sich so am Staat zu beteiligen, umso stärker trat die Nationalidee
in den Vordergrund. Nation und Demokratie wurden zwei Seiten derselben Medaille, der Nationalstaat erwies sich als zeitgemäßer Rahmen und Garant für Demokratie und Parlamentarismus. Als geistige Väter standen Rousseau und die Verfassungspolitiker der Französischen Revolution ebenso da wie John Locke nach der englischen, der »Glorreichen« Revolution von 1688: Für sie war die Nation die Gemeinschaft der mündig gewordenen Bürger.
    Anders in Mitteleuropa, also in Deutschland und Italien. Die Zersplitterung dieser Region, die direkte Einflussnahme der europäischen Randmächte auf die Verfassung und Ordnung Mitteleuropas war kein Zufall, sondern logisches Ergebnis der europäischen Staatenordnung. Nur der amorphe Zustand der europäischen Mitte hatte Europa jahrhundertelang in Balance gehalten, undjeder Blick auf die Landkarte zeigte, weshalb: Mitteleuropa, von der Ostsee bis zur Adria und zum Tyrrhenischen Meer, hielt die großen Mächte auseinander, sorgte für Distanz zwischen ihnen und verhinderte unmittelbare Kollisionen. Dieser Raum war diplomatisches Glacis im Frieden, europäisches Kriegstheater im Konfliktfall. Zudem galt es, Machtballungen in der europäischen Mitte zu verhindern, denn wer dieses Gebiet besäße, sei es eine der europäischen Großmächte, sei es eine Macht, die in Mitteleuropa selbst entstünde, könnte im Bündnis mit nur einer weiteren europäischen Macht Herrin Europas werden. Jede Machtballung in Deutschland oder Norditalien wirkte daher wie eine Aufkündigung des europäischen Gleichgewichtes. Die notwendige Folge war die Bildung feindlicher Koalitionen, deren Erfolg umso wahrscheinlicher war, als sich eine mitteleuropäische Hegemonialmacht nach mehreren Seiten zugleich zu behaupten hatte und dabei über keine verteidigungsfähigen natürlichen Grenzen verfügte. Aus diesem Grund galten den europäischen Nachbarn die Selbstständigkeit der deutschen und italienischen Klein- und Kleinststaaten als Garantie der europäischen Freiheit, des Gleichgewichtes der europäischen Staatenwelt und ihrer Existenz. So hatten die Staaten Europas schon im Westfälischen Frieden von 1648 insgesamt das Überleben und die Unabhängigkeit der mehr als 300 deutschen Duodez-Fürstentümer und der Reichsstädte garantiert, und nicht anders sahen die Staatsmänner Englands, Frankreichs, Russlands, Preußens und Österreichs die Situation bei der Neuordnung des Kontinentes auf dem Wiener Kongress. Deshalb wurde Deutschland lediglich zu einem locker gefügten »Deutschen Bund« aus 39 souveränen Staaten und Städten zusammengeschlossen,