Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
»Zivilgesellschaft« – zum politischen Auftrag der Union; damit wird die Rolle gesellschaftlicher Organisationen und Interessengruppen als Teil des europäischen Politikprozesses auch konstitutionell unterstrichen.
Mit der voranschreitenden wirtschaftlichen Integration, der Vergemeinschaftung von Politikfeldern und dem Wandel und der besonderen Ausprägung des politisch-institutionellen Entscheidungsgefüges der EG/EU ging und geht auch ein Wandel der Strukturen, Ebenen und Strategien verbandlicher Interessenvermittlung einher.
Die Europäisierung der Organisationsformen und der Politiken gesellschaftlicher Akteure, die sich im Sog der Integrationsentwicklung vollzog, kommt in mehreren Dimensionen zum Ausdruck, so beispielsweise in der zunehmenden Einbeziehung integrationsbedingter Materien und europäischer Aufgabenstellungen in die nationale Verbandsarbeit, in dem Auf-und Ausbau eigenständiger, grenzüberschreitender und überstaatlicher Informations- und Handlungsressourcen durch die nationalen Akteure und in der europäisch-überstaatlichen Organisation und Interessenvermittlung im Rahmen europäischer Verbände. Gegenwärtig ist nahezu das gesamte Spektrum nationaler Interessenorganisationen, von den Fach-, Branchen-und Dachverbänden der Wirtschaft über die Agrar-, Umweltschutz- und Verbraucherverbände bis zu den Gewerkschafts- und Wohlfahrtsverbänden,
im Rahmen von Euroverbänden organisiert. Darüber hinaus unterhalten zahlreiche nationale Verbände eigene Vertretungen am Sitz der Gemeinschaftsorgane.
Die Bundesrepublik ist mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) seit Ende der 1950er Jahre, mit dem Deutschen Raiffeisenverband (DRV) seit 1968 und mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) seit 1997 vertreten.
Neben Verbänden sind inzwischen über 200 multinationale Konzerne mit Verbindungsbüros in Brüssel ansässig, deren Ressourcenausstattung und Aktivitätenradius vielfach ihren Vertretungen am jeweiligen nationalen Regierungssitz der Muttergesellschaft entspricht.
Bei wichtigen industrie- und technologiepolitischen Gemeinschaftsentscheidungen erfolgt die Einflussnahme durch Konzerne vermehrt mittels Firmenkonsortien und »Produzentenclubs« oder durch nationale Koordinierungskreise, wie etwa der Association des Grandes Entreprises FranÇaises. Hinzu kommt eine mit dem Binnenmarktprozess seit Mitte der 1980er Jahre signifikant steigende Zahl kommerzieller Lobbyagenturen, zu denen auch europäische Rechts- und Unternehmensberater zählen. Diese auf europäische Fragen spezialisierten rund 250 Kanzleien und Beratungsbüros verkörpern eine neue Tendenz des europäischen Lobbyismus. Ihre Dienste werden in wachsendem Maße von Seiten der Wirtschaft, etwa amerikanischen und japanischen Konzernen, aber auch europäischen Unternehmen, in Anspruch genommen. Diese betreiben meist kein eigenes, europäisches in-house-lobby-ing , sondern verfolgen spezifische Interessen und Anliegen, die nicht im Rahmen von Verbänden vermittelbar sind. 1 Bei schwankenden Schätzungen 2 kann von gut 1500 europäischen Interessenorganisationen und Lobbyagenturen ausgegangen werden. Allein in der Datenbank der EU-Kommission haben sich 703 Euro-Verbände registrieren lassen (Stand: Januar 2004).
Ein auch nur annähernd vergleichbar dichtes Netz transnationaler gesellschaftlicher Interessenvertretungen hat sich weder im Rahmen anderer regionaler, wirtschaftlicher oder politischer Zusammenschlüsse von Staaten herausgebildet noch im Umfeld internationaler Organisationen, etwa den Vereinten Nationen (VN) oder der OECD, angesiedelt.
Die Herausbildung einer europäischen Ebene der Interessenvertretung und die zunehmenden grenzüberschreitenden Aktivitäten (sub-)nationaler gesellschaftlicher Akteure sind ebenso Reflex wie konstitutiver Bestandteil der besonderen Systemeigenschaften der EU. Darunter fallen die wachsende Vergemeinschaftung und Interdependenz von Politikfeldern, die vertikale Verflechtung und gegenseitige Durchdringung politischer Entscheidungsebenen (Region – Bundesland, nationalstaatliche Ebene – supranationales
Institutionengefüge) und die dichten, horizontalen zwischenstaatlichen und gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Integrationsraumes.
Neben den jeweils sektorspezifischen Integrationsentwicklungen finden die außen(wirtschafts)politischen Beziehungen und Aktivitäten der EU, etwa die Assoziierungs- und Kooperationspolitiken mit
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