Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Drittstaaten, in verstärktem Maße ihren Niederschlag im Interessen-, Organisations- und Aufgabenspektrum der Verbände. Die komplexen Wechselwirkungen zwischen der europäischen Interessenvermittlung gesellschaftlicher Akteure im Mehrebenengefüge der EU und der Effizienz und Legitimation gemeinschaftlicher Politik, wie der Gesamtentwicklung des Integrationssystems, sind Gegenstände politischer Auseinandersetzungen und Themen der Verbands- und Integrationsforschung.
Die einschlägige, keineswegs dicht gesäte Forschungsliteratur zum Themenfeld »organisierte Interessen und europäische Integration« bietet allenfalls ein »Kaleidoskop von Momentaufnahmen aus wechselnder theoretischer Perspektive« 3 . Zum einen betonen Analysen die Problematik eines beschleunigten, nach gesellschaftlichen Interessenbereichen ungleichgewichtigen Wachstums des Eurolobbyismus: die Bevorzugung wirtschaftlicher Interessen und die Beförderung klientelbezogener Verteilungskoalitionen in einem durch die diffuse hoheitliche Struktur der EU begünstigten, intransparenten und demokratisch-parlamentarisch nicht hinreichend kontrollierten Entscheidungssystem. In anderen, zumal integrationsgeschichtlich orientierten Analysen erscheint die Europapolitik von Verbänden als Teil einer Elitenkooperation, die Integrationsfortschritte erst ermöglichte.
Durch die europäische Formierung und Vermittlung heterogener gesellschaftlicher Interessen, den Transfer von Erwartungen, Unterstützungsleistungen und Loyalitäten auf die überstaatlichen Integrationsebenen tragen Verbände demnach zum Entstehen eines transnationalen gesellschaftlichen Raumes bei. Damit wird ein Ort geschaffen, in dem sich Ansätze einer »europäischen Öffentlichkeit« entfalten können.
1. Historischer Überblick
1.1 Entwicklung und Wachstum europäischer Interessengruppen
Vor allem im Bereich der gewerblichen Wirtschaft führte bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts die sich intensivierende internationale Arbeitsteilung und Handelsverflechtung zu internationalen Zusammenschlüssen von Verbänden.
Dieser durch die beiden Weltkriege unterbrochene Prozess transnationaler Verbändekooperation erhielt nach 1945 durch den Marshall-Plan und die Gründung der Organisation for European Economic Cooperation (OEEC) 1948 neue Impulse.
Allein zwischen 1945 und 1950 wurden rund 30 internationale und europäische Verbandszusammenschlüsse etabliert. Darunter der 1950 als Zusammenschluss von 25 industriellen Spitzenverbänden aus 17 europäischen Ländern gegründete Rat der Europäischen Industrien (REI). 4 Die Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 führte zum Zusammenschluss der betroffenen Verbände des Montansektors. Noch im selben Jahr gründeten die nationalen Stahlverbände der sechs EGKS-Staaten den Club der Stahlhersteller, 1953 schlossen sich die bergbaulichen Verbände im Studienausschuss des westeuropäischen Kohlebergbaus mit Sitz in Brüssel zusammen. Auch die industriellen Dachverbände formalisierten ihre Zusammenarbeit in der Union der Industrien der sechs Schumanplan-Länder.
Mit dem In-Kraft-Treten der Römischen Verträge und damit der Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ging ein erster großer Wachstumsschub europäischer Verbandsgründungen in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft, Handel, produzierendes Gewerbe sowie im Dienstleistungssektor einher. Von den gegenwärtig über 400 Euroverbänden der Privatwirtschaft, den Fach-, Branchen- und Dachverbänden der verschiedenen Sektoren, wurden allein 255 im Zeitraum zwischen 1958 und 1968 gegründet, davon über die Hälfte in den beiden ersten Jahren nach Schaffung des gemeinsamen Marktes. Bei der Mehrzahl dieser Verbände handelt es sich um originäre Neugründungen, andere entwickelten sich aus bestehenden Welt- oder Kontinentalorganisationen heraus. Rund 120 wirtschaftliche Euroverbände formierten sich im Zeitraum 1968 bis 1978. Der Mitgliederkreis ging und geht bei einem guten Drittel der europäischen Verbände über den E(W)G-Rahmen hinaus. Die Verbände der (ehemaligen) European Free Trade Association (EFTA-Staaten) waren in vielen Fällen assoziierte Mitglieder. Im Zuge der EG-Erweiterungen, die bei verschiedenen Euroverbänden mit Organisationsreformen einhergingen, erlangten sie den Status von Vollmitgliedern.
Auch die Gewerkschaften 5 etablierten bereits 1950 die europäische Regionalorganisation des
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