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untersucht werden (äußere Verbandsumwelt). Dies kann hier nur in Grundzügen und beispielhaft geleistet werden, da die Variationsbreite der Organisations-und Rollenprofile europäischer Verbände enorm ist. Sie reicht, was die Größenverhältnisse anbetrifft, vom Ein-Personen-Sekretariat einzelner Spartenverbände bis zum organisatorisch tief gestaffelten, ressourcenstarken Verband der europäischen Chemiewirtschaft (CEFIC) mit rund 40 Sekretariatsmitarbeitern. In der Regel sind die Euroverbände Föderationen nationaler Verbände mit eigener Rechtspersönlichkeit und Organisationsstatuten. Sie verfügen über eine europäische Geschäftsstelle, Beratungsgremien, in denen haupt- oder ehrenamtliche Vertreter der nationalen Mitgliedsorganisationen mitarbeiten, und Entscheidungsgremien, die aus den Geschäftsführern oder Präsidenten der nationalen Mitgliedsverbände bestehen.
In den europäischen Zusammenschlüssen gesellschaftlicher Massenorganisationen, wie beispielsweise dem EGB, bilden Delegiertenkongresse, die mehrmals im Jahr tagen, das formal höchste Entscheidungsgremium. In einzelnen europäischen Unternehmensverbänden gewinnt die Direktmitgliedschaft von (Groß-)Unternehmen an Bedeutung. So erhielt beispielsweise der europäische Chemieverband Ende der 1980er Jahre eine duale Finanzierungs-, Arbeits- und Entscheidungsstruktur, die auf der einen Seite aus den nationalen Chemieverbänden, auf der anderen aus über 40 Chemiekonzernen besteht.
Als Verband von nationalen Dachverbänden ist auch die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE) bestrebt, die unternehmerische Basis verstärkt in die Willensbildung und Finanzierung der europäischen Verbandsarbeit einzubeziehen. Mehrjährige organisationspolitische Kontroversen führten 1991 zur Einrichtung einer UNICE advisory and supportgroup, der Unternehmen als Direktmitglieder angehören und eigene
Finanzierungsbeiträge leisten. Die Summe dieser Beiträge bleibt allerdings auf 25 Prozent des UNICE-Gesamtbudgets begrenzt, um die Vorrangstellung der Verbände zu wahren. 6
Die Kernaufgaben der europäischen Interessengruppen liegen in der Information der nationalen Mitglieder über das Brüsseler Geschehen, der Vertiefung des gegenseitigen Erfahrungsaustausches, der Formulierung gemeinsamer europäischer Positionen und Forderungen und deren Vertretung gegenüber den EU-Entscheidungsinstanzen. Entscheidungen werden meist einvernehmlich getroffen.
Einige wenige Verbände wie der EGB und die UNICE haben im Laufe der Zeit differenzierte Entscheidungsverfahren entwickelt. Der EGB besteht auf qualifizierte Mehrheiten bei bestimmten Programm- und Statutenfragen, während die UNICE seit Anfang der 1990er Jahre ein neues Verfahren eingeführt hat. Entscheidungen können nun durch das Votum von mindestens drei Mitgliedsverbänden blockiert werden. Bei Budgetfragen gewichten sich die Stimmanteile nach den Beitragsleistungen der Mitgliedsverbände, wobei 20 Prozent der Stimmen als Sperrminorität gelten. Um bei essenziellen ordnungs- und integrationspolitischen Fragen, die weiterhin konsensual entschieden werden, andauernde Blockaden zu vermeiden, wird das Prinzip der dissenting votes angewandt.
In der Mehrzahl der Fälle bewegen sich die Organisationseigenschaften und Handlungsfähigkeiten der Euroverbände zwischen den oben beschriebenen Typen II und III. Sie sind Foren der Kooperation und Koordination, und teilweise sind sie auch transnationale Akteure mit der Fähigkeit zur europäischen Interessenbündelung und strategisch abgestimmten Einflussnahme. Die Interessenvermittlungsfähigkeit eines Verbandes variiert dabei wiederum häufig nach den jeweiligen Regelungsmaterien. So sind euroindustrielle Verbände zur Gestaltung vielfältiger technischer und wettbewerbsneutraler EU-Regelungen fähig, während ihre Rolle in sensiblen Bereichen der Industrie- und Handelspolitik begrenzt bleibt, da dort unterschiedliche Interessen und Ordnungstraditionen der nationalen Mitgliedsverbände aufeinander treffen.
In einzelnen europäischen Verbandsbereichen, etwa des Chemie- und Pharmasektors, kommen schließlich Elemente des Typus IV dergestalt zum Tragen, dass mittels der europäischen Verbände Verhaltenscodes und verbandliche Selbstregulative entwickelt und durchgesetzt werden. 7 Auch die europäischen Dachverbände der Arbeitgeber und Gewerkschaften, UNICE und EGB erhalten seit Mitte der 1990er Jahre das Mandat ihrer nationalen Mitglieder, im Rahmen der
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