Europa nach dem Fall
während der letzten 30 Jahre ergeben. Die materielle Lage der meisten Amerikaner, der Armen und der Mittelschicht, hat sich in diesem Zeitraum kaum verbessert. Amerika ist in den letzten Jahrzehnten zum größten Schuldnerland der Welt geworden. Wie kann dann, so fragte ein sehr hochrangiger Beamter, der größte Schuldner noch die Rolle einer Supermacht spielen? Die Antwort ergab sich 2008 und in den folgenden Jahren.
Der Kapitalismus oder jedenfalls der Kasinokapitalismus und das Bankensystem hatten einen tödlichen Schlag erlitten, so schien es wenigstens. In einem Land, das traditionsgemäß der Wall Street nicht feindlich gesinnt ist, vertrat 2010 eine Mehrheit die Meinung, es sei falsch, wenn diejenigen, die durch Gier und Inkompetenz für die eingetretene Katastrophe verantwortlich gewesen waren, üppige Boni einstrichen und weniger Steuern zahlen müssten. Doch der Sozialismus und die Linke profitierten nicht wirklich von der Krise des Kapitalismus, es herrschte keine Überzeugung, dass der Sozialismus eine Antwort auf solch eine Krise habe, und die Erfahrung mit dem Kommunismus war negativ verlaufen. China feierte Erfolge, doch dort hatte ein Übergang vom maoistischen Kommunismus zu etwas zwischen Staatskapitalismus und privatem »Halsabschneider«-Kapitalismus stattgefunden. Linksgerichtete Ideologen versuchten zu erklären, warum der chinesische Kapitalismus, ausbeuterischer als andere, progressiver sei – weil er nicht demokratisch sei. Keine leichte Aufgabe.
Amerika kann viel aus der europäischen Erfahrung lernen, in positiver wie negativer Hinsicht. Der europäische Wohlfahrtsstaat hat seine Probleme nicht damit, dass er falsch, dekadent oder zur Faulheit verleitend ist, sondern dass er im Lauf der Jahre immer teurer wurde. Vor demselben Problem stand Amerika. Als das Sozialsystem nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, lebten die Menschen nicht so lange wie im Jahre 2010 und Medizin war unendlich billiger, weil erst in den letzten Jahren die ausgefeilte Apparatemedizin und hoch entwickelte Medikamente hinzukamen. (Bürger Frankreichs, Deutschlands und vieler weiterer europäischer Staaten lebten 2010 zwölf bis fünfzehn Jahre länger als vor sechzig Jahren.) Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte so gut wie überall Vollbeschäftigung. Der Wohlfahrtsstaat funktionierte einigermaßen gut in Europa und selbst die konservativsten Regierungen hätten nicht im Traum daran gedacht, drastische Einschnitte durchzuführen. Doch alles beruhte auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Lage stabil bleibe und es beständiges Wachstum gebe – Wachstum in dem Ausmaß, wie die Sozialausgaben anstiegen. Doch was wäre, wenn diese Annahmen nicht mehr stimmten? Was, wenn der Kontinent alterte, was steigende Kosten und geringere Staatseinkünfte zur Folge hätte?
Paradoxerweise erlitt die europäische Sozialdemokratie gerade zu einer Zeit, da sie hätte aufblühen sollen, herbe Niederschläge – während des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Zu Anfang des Jahrhunderts waren in zwölf von fünfzehn EU-Staaten Sozialdemokraten an der Macht oder an der Regierung beteiligt. Doch in den Jahren danach verloren sie in einem Land nach dem anderen ihre führende Position, selbst in Skandinavien, wo diese Parteien mehrere Jahrzehnte lang am Ruder gewesen waren. Wie konnte das geschehen, nachdem jahrelang die Einkommensschere weiter aufgegangen war, unpopuläre Privatisierungen stattgefunden hatten und vor allem die schmerzhafte ökonomische Rezession eingetreten war?
Wer profitierte von diesem Niedergang? Den Parteien der Mitte oder rechts von der Mitte kam das nur in begrenztem Ausmaß zugute. In Deutschland gewann die Linke, Erbe der ostdeutschen Kommunisten, etwas an Boden, aber nicht so sehr wie die Grünen, die alles andere als eine sozialistische Partei waren und deren sozioökonomische Anziehungskraft in beträchtlichem Ausmaß auf einem äußerst vagen Programm beruhte. Anderswo in Europa hatte die extreme Rechte einige sehr bescheidene Erfolge, wobei vor allem die Einwanderungsgegner etwas mehr Boden gewannen. Doch all das erklärte nicht das Ausbleiben eines Aufschwungs bei der demokratischen Linken.
Einige führten das auf den Übereifer sozialdemokratischer Parteien zurück, mit dem diese Deregulierungen und Privatisierungen durchführten, wenn sie an der Macht waren – wie Labour in Großbritannien. Doch da Deregulierung und Privatisierung auf der Agenda der meisten anderen Parteien gestanden
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