Europa nach dem Fall
hatten, bot das keine zufriedenstellende Erklärung. Lag es vielleicht daran, dass die Sozialdemokratie in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger erfolgreich ihr traditionelles Programm – die Einrichtung eines Wohlfahrtsstaates – durchgesetzt und damit ihre historische Mission erfüllt hatte?
Oder lag es daran, dass die Arbeiterklasse, die traditionelle Basis der Sozialdemokratie in Europa, im Lauf der Jahre zahlenmäßig geschrumpft war infolge der Deindustrialisierung in Großbritannien und anderen Ländern und dass sie des Weiteren ihren Charakter verändert hatte als Ergebnis des Zustroms so vieler Migranten? Die Gewerkschaften waren immer der große Verbündete der Sozialdemokratie gewesen, doch auch sie hatten an Mitgliedern und an Einfluss gehörig verloren. Einige brachten vor, dass die an sich radikalen sozialistischen Parteien ihre Überzeugungen nicht mehr mutig genug vertraten. Die meisten waren pazifistisch, doch keine von ihnen hatte es gewagt, die Streitkräfte abzuschaffen und die Verteidigungsbudgets in Bildung und andere kühne und vielversprechende wirtschaftliche Projekte umzuleiten. Doch das war mehr als ein wenig utopisch in einer Welt, in der Schwerter noch nicht zu Pflugscharen geschmiedet worden waren und in der die Verteidigungsbudgets so sehr geschrumpft waren, dass ihre Umleitung in andere Ressorts kaum einen Unterschied gemacht hätte. Wäre eine viel höhere Besteuerung der Reichen effektiv gewesen? Doch die Steuersätze in den meisten europäischen Ländern waren ohnehin schon hoch. Privatisierung war oft unbeliebt, aber noch mehr galt das für die Verstaatlichung.
Aus historischer Perspektive hat der Niedergang der europäischen Sozialdemokratie eine Vielzahl von Ursachen. Selbst von den Kritikern bezweifelten nur wenige die Existenzberechtigung so einer Partei. Doch derzeit besteht die Sozialdemokratie im Wesentlichen aus wohlmeinenden Leuten, die überzeugt für Freiheit und soziale Gerechtigkeit kämpfen und auf der Suche nach einer großen politischen Aufgabe sind, der sie sich annehmen können, um die Vorboten einer neuen Welt zu werden. Die alte, inoffizielle Hymne der deutschen Sozialdemokraten war ein ursprünglich aus Russland stammendes Lied: »Mit uns zieht die neue Zeit«. Doch bislang haben die Sozialdemokraten nicht erfasst, was genau die neue Zeit ist und was sie braucht.
Hatte der Niedergang mit (fehlender) Führerschaft zu tun? Womöglich in gewisser Weise, doch das könnte sich auch auf Europa generell beziehen. »Die Internationale« hatte der Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts zugerufen: »Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun«. Doch die frühe Hymne der deutschen Sozialisten, von Georg Herwegh geschrieben, hatte eine andere Botschaft: »Gib uns den Mann, der das Panier der neuen Zeit erfasse, und durch Europa brechen wir der Freiheit eine Gasse!« Und so wartet die europäische Linke noch heute auf den Mann (oder die Frau) wie auf Paniere und Botschaften. Das Versagen des freien Marktes und der Trend zur Plutokratie wird früher oder später politischen Widerstand auslösen. Doch bislang haben sich noch keine klaren politischen Alternativen gezeigt.
Eine Zeit großer und wachsender Unzufriedenheit erzeugte manchmal gewalttätige Kundgebungen von Studenten, die gegen steil ansteigende Studiengebühren protestierten. Sie löste Demonstrationen von anderen Gruppen der Gesellschaft aus, die besonders hart von der Krise und der darauf folgenden Kürzungs- und Sparpolitik getroffen worden waren. Doch ein Wegweiser für die Zukunft ist dabei noch nicht herausgekommen. Stattdessen erhielten zwei französische Aufsätze viel Aufmerksamkeit. Der erste, Indignez-vous! , war von einem ehemaligen französischen Diplomaten geschrieben, der seine Landsleute dazu aufrief, mehr auf die Ungleichheiten der gegenwärtigen Gesellschaften zu achten und etwas dagegen zu unternehmen, zu den Idealen des französischen Widerstands zurückzukehren, Einwanderer besser zu behandeln und Israel strenger zu verurteilen. Der zweite, vom quasi-anarchistischen comité invisible , wurde ursprünglich 2007 veröffentlicht. Während er offensichtlich ultralinks ausgerichtet war, bezog er viele Anregungen von nicht- oder antidemokratischen deutschen Denkern wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger. Er war antimodern und wandte sich zum Beispiel gegen das Leben in Großstädten. Wohlmeinende konnten in den Seiten womöglich einen gewissen
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