Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
Vom Netzwerk:
Regierung (500 000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst des Vereinigten Königreichs sollten gestrichen werden, um nur ein Beispiel zu nennen). Einschnitte gab es auch beim Kindergeld, bei den Renten und vielen anderen Dienstleistungen; einschneidende Kürzungen mussten bei den Etats für Verteidigung, Erziehung, Kultur und in fast allen anderen Bereichen durchgeführt werden. Solche Sparmaßnahmen führten zu Massenstreiks in Frankreich und anderen europäischen Ländern. Doch die Streiks waren zum Scheitern verurteilt, wenn den Regierungen die geforderten Mittel fehlten und es keinen Spielraum für Kompromisse gab. Und selbst für den Fall einer Bereitschaft, auf die Forderungen einzugehen, gab es da noch die Tatsache, dass die Budgets nach dem Lissabon-Vertrag von 2007 in zunehmenden Maß einer Kontrolle durch äußere Mächte unterworfen waren, sei es durch die EU, die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds (IWF). Daher musste sich der Unmut zwangsläufig nicht nur gegen die eigene Regierung richten, sondern auch gegen Brüssel und Straßburg, wie auch gegen die Länder, die in den EU-Topf einzahlten. Diese Gemengelage sollte unweigerlich zu Feindseligkeit gegen die expandierende Brüsseler Bürokratie führen, deren Abgeordnetengehälter und andere Vergütungen oft höher waren als die der Regierungsbeamten zu Hause und deren Befugnisse als überflüssig erachtet wurden. Zu einer Zeit, als Brüssel rundum drastische Einschnitte verlangte, bestand die Führung der Europäischen Union darauf, ihr eigenes Budget um 5 bis 6 Prozent zu erhöhen; das war kein gut gewählter Zeitpunkt, und die Tatsache, dass die Brüsseler Führung unbeliebt war und nicht gerade vor Ideen sprühte, besserte die Stimmung auch nicht.
    Der Tagesbefehl lautete, Streichungen durchzuführen und den Gürtel enger zu schnallen. Doch ebenso klar war fast allen, dass eine verantwortliche Politik, also ein Nachdruck auf Einsparungen, zwar notwendig war, da sich dadurch schließlich die Staatsverschuldung verringern würde; gleichzeitig würden diese Einsparungen aber keinen Anreiz zum Wirtschaftswachstum bieten – im Gegenteil, sie würden es eher hemmen. Es gab auch keinen goldenen Mittelweg, der den rechten Ausgleich finden würde und auf jedes Land anwendbar wäre. Irland stand unter Beschuss wegen seiner Körperschaftssteuer von 12 Prozent, die in früheren Jahren viele führende internationale Konzerne angezogen hatte. Doch würde Irland dem Druck aus Deutschland und Frankreich nachgeben, die sich über unfairen Wettbewerb beklagten, hätte dies ein noch langsameres Wachstum zur Folge. Dies wiederum wäre von Nachteil für die wirtschaftliche Erholung und würde die Fähigkeit behindern, die Schulden in der vorhersehbaren Zukunft abzutragen.
    Die meisten europäischen Länder litten unter dem Schwund der Wirtschaft. Vorhersagen reichten von einer ziemlich raschen Erholung in der Slowakei (die eine Zeit lang die höchste Wachstumsrate in ganz Europa hatte) bis zu einem Zusammenbruch der rumänischen Wirtschaft im Jahr 2011 – bei einem Rückgang um 15 Prozent oder sogar mehr des rumänischen Bruttosozialprodukts. Die Schulden Rumäniens beliefen sich auf beinahe 100 Milliarden Euro, die Schulden Bulgariens auf etwa 37 Millionen. Die Erholung wurde in beiden Ländern durch Inflation behindert. Trends in diesen Ländern mussten einen gewissen Einfluss auf die Märkte haben, jedoch weniger als Entwicklungen in West- und Südeuropa; die betreffenden Schulden waren nicht von derselben Größenordnung, zudem hatten diese Länder noch nicht den Euro eingeführt. Ein rascher Geldwertverfall oder sogar ein Zusammenbruch ihrer Währung würde daher die Eurozone nicht direkt betreffen.
    Ganz anders war die Lage in Ungarn. Ungarische Wortführer verkündeten im Mai 2010, ihr Land befände sich in einer »sehr ernsten Lage«. Die Auslandsschulden beliefen sich auf 150 Milliarden Euro, das Bruttosozialprodukt war im Vorjahr um 6,6 Prozent gesunken und die Landesbevölkerung schrumpfte. In jenem Jahr war in Ungarn aber eine stark nationalistische Partei an die Macht gekommen, die eine Koalition mit einer noch radikaleren, geradezu faschistischen Partei eingegangen war, und die Wortführer erklärten als stolze Ungarn, dass man keine Hilfe von internationalen Finanzinstitutionen annehmen, sondern sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen würde. Mit dramatischer Geste brachen sie im Juli 2010 die Verhandlungen mit dem Internationalen

Weitere Kostenlose Bücher