Europa nach dem Fall
könne.
Die andere Entwicklung, die lange Zeit übersehen wurde, war das rasche Wirtschaftswachstum in einigen der Entwicklungsländer, vor allem in China und Indien. Es stimmte, dass sie in Hinsicht auf wissenschaftliche und technologische Entwicklung kaum Rivalen der EU waren, doch andererseits waren sie als Kunden und Lieferanten selbstverständlich von großer Bedeutung. Keine besondere Aufmerksamkeit wurde auch der wachsenden Abhängigkeit Europas von Öl- und Gaslieferungen aus Russland und dem Nahen Osten gewidmet. Die Fixierung auf die Vereinigten Staaten war so stark, dass Ereignisse in anderen Teilen der Welt entweder übersehen oder nicht so wichtig genommen wurden. Es wäre übertrieben, hier von Blindheit zu sprechen, weil es Stimmen gab, die behaupteten, die Welt sei mit dem Ende des Kalten Krieges kein sichererer Ort geworden. Aber die Bereitschaft, darauf zu hören, war gering. Das war die Zeit des »Europäischen Traums«.
Warum? Dafür gibt es wohl hauptsächlich psychologische Gründe. Nach mehr als 40 Jahren Leben in Spannung und Konflikt hatten viele Europäer das Gefühl, nun endlich frei durchatmen und zuversichtlich in die Zukunft blicken zu können. Der Kalte Krieg hatte ihnen Zwänge auferlegt wie die Abhängigkeit von Amerika, die nun abgebaut werden konnte. Die Liste der Vorbehalte gegen Amerika aufseiten der europäischen Eliten war lang und braucht hier nicht heruntergebetet zu werden. Das hatte teilweise kulturelle Ursachen und reichte lange Zeit zurück. Es gab politische Einwände: das Engagement des amerikanischen Militärs im Irak und in Afghanistan, das viele Europäer für unnötig, kostspielig, gefährlich und auf jeden Fall mangelhaft durchgeführt hielten; Amerikas kritiklose Unterstützung Israels, die als verantwortlich für viele (wenn nicht alle) größeren Probleme in der Weltpolitik gehalten wurde; die Wirtschaftskrise von 2008 und 2009, die größtenteils als Amerikas Fehler angesehen wurde angesichts der riesigen Schulden, welche die Vereinigten Staaten im Lauf der Jahre angehäuft hatten, und des verantwortungslosen, wenn nicht betrügerischen Verhaltens größerer amerikanischer Banken (und der Zögerlichkeit Washingtons, ihnen strikte Kontrollen aufzuerlegen).
Kurzum, in Europa griff die Auffassung um sich, dass der alte Kontinent besser dran wäre, wenn er politisch auf größere Distanz zu den Vereinigten Staaten gehen würde. Jedenfalls schien Amerika in der Weltgeschichte nicht mehr auschlaggebend zu sein, da die unipolare Welt von einer multipolaren Welt abgelöst wurde. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise widmeten die europäischen Medien mehr Raum und größere Aufmerksamkeit den Geschichten über das »schwächelnde Amerika«, das Leiden des Durchschnittsamerikaners, Washingtons enorme Verschuldung, die hohe Arbeitslosenrate und andere Widrigkeiten. Gewöhnlich wurde ignoriert, dass die Vereinigten Staaten im letzten Jahrzehnt ihr Bruttosozialprodukt gesteigert hatten und die Bevölkerung auch gewachsen war. Im Vergleich zu Europa war Amerika tatsächlich stärker geworden. Im Jahr 2000 betrug die amerikanische Bevölkerung 59 Prozent der Gesamtbevölkerung aller fünfzehn Mitglieder der EU. 10 Jahre später waren es 78 Prozent.
Während sie mit ihrer Einschätzung der USA nicht ganz falsch lagen, bemerkten die europäischen Medien nicht (oder brachten es dem Publikum nicht zur Kenntnis), dass die Lage in vielen europäischen Ländern zumindest genauso schlimm war und dass nicht einmal das Überleben der Europäischen Union gesichert war. Das traf zum Beispiel im Hinblick auf die zu beiden Seiten des Ozeans angehäuften Schulden und die aufkommende Plutokratie in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa zu. Es klang nach kindischer Schadenfreude, war aber psychologisch verständlich, wenn es hieß: »Wir mögen in Schwierigkeiten stecken, aber die Amerikaner sind auch nicht besser dran« – » chagrin partagé «, » el dolor compartido «, »geteiltes Leid ist halbes Leid«. Jede europäische Sprache hat Worte des Trostes, aber sie helfen nicht weiter.
Zurück zur europäischen Perspektive in der Zeit vor der Krise. Es stimmte, dass am Horizont einige kleinere dunkle Wolken wie der globale Terrorismus aufgetaucht waren. Doch diese Bedrohungen, so die weitverbreitete Auffassung, ließen sich im Zaum halten, vielleicht durch Verhandlungen und kleinere Kompromisse; oder vielleicht würden sie allmählich verschwinden. Was am 11. September 2001 in
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