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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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politisch aus, jedoch nicht positiv, denn sie führte zu einer Mutlosigkeit, die ich später erörtern werde. Es ist oft gesagt worden, Europa sei zwar ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg. Nach der Rezession stellte sich heraus, dass auch die riesige Wirtschaft nicht so stark und stabil war.
    In den 1990er-Jahren und auch später hatte der ungeheure Optimismus geherrscht, dass Europa in Zukunft als Vorbild für die ganze Menschheit dienen könne. Europa sei wie ein Leuchtfeuer, das den Weg zu Menschlichkeit und einer höheren, zivilisierteren Lebensart wies. Es würde das 21. Jahrhundert nicht durch seine Macht, sondern durch die schiere Kraft des Beispiels dominie ren – die ganze Welt würde versuchen, so wie Europa zu sein. In zahllosen Büchern, Vorträgen und Konferenzen waren diese optimistischen Stimmen zu hören, nach 2005 oder 2006 zugegebenermaßen mit abnehmender Überzeugungskraft. Zur Zeit der großen Rezession blieben nur noch sehr wenige unverzagte Seelen übrig, die dieses Evangelium predigten. Ein paar Amerikaner reisten durch Europa und erklärten den verdutzten Bewohnern, dass ihr Modell das beste sei und dass sie sich wenig zu sorgen brauchten.
    Was waren die tieferen Beweggründe hinter diesem glühenden Glauben an das europäische Modell, dem einige Amerikaner anhingen? Eines Tages mögen Soziologen und Psychologen dies als ein faszinierendes Thema für ihre Untersuchungen ansehen. Ideologische Erwägungen spielten selbstverständlich eine Rolle; die Europa-Enthusiasten (diesen Begriff benutze ich für diejenigen, die europäische Belange über alles stellten) hielten sich für Liberale, der progressiven Linken zugehörig, wohingegen die Skeptiker als rechte Reaktionäre galten. Womöglich war ein Element amerikanischer Europhilie im Spiel, eine Tradition mit Henry James und T. S. Eliot als Vorläufern, die allerdings beide keine großen Anhänger der Linken waren. Doch es kann genauso gut schlicht an mangelndem Wissen gelegen haben; die meisten dieser Amerikaner kamen für längere oder kürzere Zeit als Touristen nach Europa; dabei standen die negativen, düsteren Aspekte nicht auf ihrer Tagesordnung. Auch wenn sie mit der Sprache und dem historischen und kulturellen Hintergrund der besuchten Länder vertraut waren, fehlte ihnen das instinktive, intuitive Verständnis für die Einheimischen, was zu Fehlurteilen führte.
    Im Hinblick auf das Geschehene fällt es leicht, sich über die Naivität derjenigen lustig zu machen, die das Hohelied des europäischen Modells sangen. Doch ihre Naivität deckt nicht die ganze Geschichte ab, denn sie wurde auf der anderen Seite von dem in den Vereinigten Staaten gar nicht so seltenen, primitiven Glauben begleitet, dass der Markt alle oder fast alle Probleme lösen würde. Die europäischen Länder hatten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Frieden gelebt (im Augenblick einmal abgesehen von gewissen Ereignissen auf dem Balkan, dem »Hinterhof« Europas). Zwischen den europäischen Ländern hatte es mehr Kooperation als je zuvor gegeben. Extreme Armut war ausgelöscht worden. Ein System sozialer Dienstleistungen und ein soziales Sicherheitsnetz waren eingerichtet worden, was es Hunderten Millionen von Menschen ermöglichte, in Würde zu leben und zu sterben. Selbst die weniger entwickelten europäischen Länder hatten ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht.
    Stellen wir dem die Vereinigten Staaten gegenüber, die es sich leisteten, für das Gesundheitssystem doppelt so viel wie Europa (beinahe 17 Prozent) auszugeben, wovon aber nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung erfasst wurde. Andere soziale Dienste, die in Europa zu finden waren, fehlten, und die Bevölkerung erlebte eine ständig wachsende Ungleichheit in Wohlstand und Einkommen. Die amerikanische Abneigung gegen »sozialisierte Medizin« beruhte zum Großteil auf lächerlich falschen Informationen; es stimmte, dass das Gesundheitssystem in einigen europäischen Ländern besser als in anderen funktionierte, und Europäer lebten etwas länger als Amerikaner. Doch einige amerikanische Vertreter des extremen politischen Lagers wendeten ein, dass das Gesundheitssystem gegen die Zehn Gebote verstieß.
    Das reichste eine Prozent der Bevölkerung der Vereinigten Staaten verfügt über mehr als ein Viertel des nationalen Vermögens, ein ungesunder Zustand sowohl hinsichtlich der Wirtschaft als auch der politischen Lage. Diese Entwicklung hin zu einer Plutokratie hat sich zum Großteil

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