Europa nach dem Fall
Romantizismus aufspüren. Doch es gab keinen Hinweis, welche Art von Gesellschaft von den Autoren gewünscht wurde oder auf welchen ökonomischen und politischen Grundlagen sie beruhen sollte. Kurzum, die Zukunftsvision war so ungreifbar wie die Identität der Autoren. Solche Veröffentlichungen und die Tatsache, dass sie ernst genommen wurden, spiegelten die in den Kreisen, von denen alternative Politik erwartet wurde, vorherrschende Hilflosigkeit und Verwirrung wider.
Wie ich später noch ausführen werde, scheint, wenn der contrat social , auf dem die europäische Politik beruht, aufbrechen und der Wohlfahrtsstaat sich auflösen sollte, selbst angesichts ideologischer Verwirrung der Linken und fehlender Führerschaft eine friedliche Entwicklung unwahrscheinlich. Eine solche Entwicklung würde zu radikaler politischer Veränderung führen, die von Gewalt begleitet wäre. Sie könnte zur Folge haben, dass nicht nur die Finanzinstitutionen, die ja die Krise verursacht haben, zusammenbrechen, sondern auch die gegenwärtigen politischen Institutionen. Ob die alte oder die neue Linke davon profitieren würde, ist nicht sicher. Früher einmal galt die Arbeiterklasse als der Hauptmotor sozialer Reformen, sogar der Revolution. Doch die Arbeiterklasse ist geschrumpft und ihre ethnische Zusammensetzung hat sich stark verändert. Sie besteht nun zu einem beträchtlichen Teil aus Immigranten und ihren Nachkommen und deren politische Orientierung ist nicht links. Die Mittelschicht, deren Lebensstandard und Einkommen schon vor Einsetzen der Krise gesunken waren, und insbesondere die junge Generation, vor allem die Studenten, werden im Kampf gegen das derzeitige System an vorderster Front stehen.
Eine neue Weltordnung
Die europäischen Ansichten zu einer neuen Weltordnung (und Europas Platz in dieser Ordnung) haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch und ziemlich oft verändert. Als der Kalte Krieg endete und die Sowjetunion zerbrach, wurde allgemein angenommen, dass die Vereinigten Staaten nun als die alleinige Supermacht dastünden. In dieser Zeit tauchten neue Schlagworte auf wie »globale Hegemonie«, »Weltregierung«, »liberaler Imperialismus«, »Neoliberalismus«, »Neokonservative«, »Ende der Geschichte«, »Globalisierung und Antiglobalisierung«, »Triumphalismus«, »unipolar« und so weiter. Dem lag der Glaube zugrunde, dass sich eine neue Konstellation gebildet hatte und dass Amerika als einziges Land mit der Fähigkeit, seine Macht wirtschaftlich und militärisch in jeden Winkel des Globus auszudehnen, das Weltgeschehen in absehbarer Zukunft beherrschen würde. Diese Aussicht löste keine große Begeisterung bei der europäischen Linken oder auf der (nationalistischen) rechten Seite aus, doch sie erzeugte auch keine große Panik, außer unter Globalisierungsgegnern.
Es gab Ängste, dass Amerika aus mangelnder internationaler Erfahrung sich in ungewollte und sogar gefährliche Abenteuer einlassen könnte und dabei den Rest der Welt mit hineinziehen würde. Doch im Großen und Ganzen herrschte die Überzeugung, dass die Staaten Europas mehr Freiheit hätten, sich um ihre häuslichen Angelegenheiten zu kümmern und die im Kalten Krieg gestiegenen Verteidigungsausgaben zu reduzieren, da keine Gefahr von außen mehr drohte. Einige maßgebliche Entwicklungen in der Weltpolitik wurden mehr oder weniger ignoriert. Während des Kalten Krieges mit all seinen negativen Aspekten und Bedrohungen hatten die Großmächte eine gewisse Ordnung etabliert. Seit dem Ende des Kalten Krieges machte sich größere Unordnung breit, da nationalistische und religiöse Extremisten größere Handlungsfreiheit bekamen, Schaden anzurichten.
Aus dem gleichen Grund – der Abwesenheit einer größeren Bedrohung oder gar Konkurrenz – wäre eine Absetzungsbewegung von der NATO zu erwarten gewesen, die wegen einer spezifischen Bedrohung, die nicht mehr existierte, ins Leben gerufen worden war. Die amerikanische Militärpräsenz in Europa wurde schrittweise auf 65 000 Soldaten verringert, doch einige Stützpunkte wurden noch aufrechterhalten. Im Prinzip gab es in Europa keine starke Opposition gegen die Allianz (abgesehen von gelegentlichen Protesten gegen die »Militarisierung des Kontinents«), aus Trägheit oder weil sie aus europäischer Sicht eine billige Versicherung war. Auch in Amerika mehrten sich die Stimmen, die fragten, gegen wen Europa verteidigt werden müsse und wenn ja, ob es das nicht aus eigenen Kräften leisten
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