Europa nach dem Fall
eingeführt. Doch was hieß das in der Praxis? Kommentatoren sagten, dass »die Prozedur wieder die Politik übertrumpft hat« und dass die EU »die Ausdehnung ihrer Bürokratie mit einer Ausdehnung ihrer Fähigkeit, einen größeren Anteil an globaler Verantwortung zu übernehmen, gleichgesetzt hat«. Kurzum, wie ein anderer Kommentator bemerkte: »Nur Gerede und kein Handeln.«
War solch eine Kritik unfair? Die beiden wichtigsten Ereignisse in der Außen- und Verteidigungspolitik während der Jahre nach Lissabon waren das Treffen zwischen Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und Dmitri Medwedew und die britisch-französische Entscheidung, die Verteidigungsanstrengungen eng zu koordinieren. Deutschland wollte ernsthafte Fortschritte auf dem Weg zur nuklearen Entwaffnung machen, doch Frankreich hatte nicht den geringsten Wunsch danach, und selbst Großbritannien wollte der deutschen Initiative nicht folgen. Selbst das deutsche Verlangen war mehr ein Wunsch als eine durchdachte Strategie. Keine Initiative war mit der EU diskutiert worden (geschweige denn beschlossen).
Genauso wenig wurden Politik und Handelsbeziehungen zu China oder irgendwelche anderen wichtigen Punkte koordiniert. Gelegentlich kam es zu ausgesprochener Konfusion: Als Präsident Sarkozy nach Sanktionen gegen den Iran rief, nachdem das Land verkündet hatte, dass es nun ein Nuklearstaat sei, erklärte die Außenministerin Lady Ashton, dass sie im Gegenteil mit dem chinesischen Außenminister übereinstimme, der solche Diskussionen über Sanktionen als verfrüht und übereilt abgetan hatte. Ganz abgesehen von ihrer persönlichen Meinung – Lady Ashton war als Sprecherin der EU, nicht Chinas, eingesetzt worden.
Wenn es keine europäische Strategie und aktive Außenpolitik gab, wie sahen die europäischen Ansichten zur neuen Konstellation in der Weltpolitik aus? Kein amerikanischer Präsident war in den letzten Jahrzehnten beliebt gewesen; Carter war zu schwach, Reagan zu stark. Reagans Rede über das »Reich des Bösen« wurde ihm nicht verziehen, da sie als undiplomatisch, wenn nicht gar kriegstreiberisch galt. Nur widerstrebend wurde anerkannt, dass unter Reagan der Kalte Krieg beendet wurde. Bush junior war besonders unbeliebt. Nur Obama wurde vor seinem Amtsantritt wirklich begeistert empfangen. Als er vor den Wahlen in Berlin auftrat, zog er eine begeisterte Zuhörerschaft von Hunderttausenden an.
Obamas überwältigender Sieg wurde vom EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso als ein Wendepunkt begrüßt. Er würde helfen, die Finanzkrise zu überwinden, den Klimawandel zu bekämpfen, auf einen neuen Multilateralismus einzuschwenken, das Misstrauen in die Vereinten Nationen zu beseitigen, Frieden im Nahen Osten und dem Rest der Welt zu schaffen, und weitere Glanzleistungen hervorbringen. Eine Umfrage der BBC ergab, dass in 17 von 22 befragten Staaten die Meinung vorherrschte, Obamas Sieg würde Amerikas Beziehungen zur übrigen Welt verbessern. Doch selbst zur damaligen Zeit meinten nur 33 Prozent der Europäer, dass eine starke amerikanische Führung in Weltfragen erwünscht sei. Ein Viertel der Europäer hielt den Führungsanspruch der USA für höchst unerwünscht. Nur eine sehr kleine Minderheit meinte, Amerika und die EU hätten eine so hohe Übereinstimmung an Werten, dass es möglich sei, auf diplomatischem Gebiet zusammenzuarbeiten und internationale Krisen gemeinsam zu bewältigen.
Es dauerte nicht lange, um zu erkennen, dass Bush nicht wirklich das Problem und Obama nicht die Lösung war, wie es in Le Monde hieß. Kaum zwei Jahre nach Obamas Amtsantritt sagte der EU-Kommissionspräsident dem Weißen Haus, dass Europa in wachsendem Maß von Washington enttäuscht sei, dass es fundamentale Unstimmigkeiten und zahlreiche verpasste Gelegenheiten gebe, die schließlich in einem grundlegenden Ideenkonflikt auf dem G-20-Treffen in Seoul kulminierten.
Was hatte Obama falsch gemacht? Vor allem hatte er Europa nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt und sich stattdessen auf andere Weltgegenden konzentriert. Er hatte versucht, die ökonomischen Probleme dadurch zu lösen, dass er zur Behebung der Krise in Amerika den Geldhahn aufdrehte, während Europa ihn eher zudrehte und zu einer Sparpolitik überging. Er hatte keine neue Ära der internationalen Zusammenarbeit herbeigeführt und es gab auch keinen »new deal« in Bezug auf finanzielle Stabilität und globalen Wohlstand. Der Krieg in Afghanistan dauerte an und selbst Guantánamo war nicht
Weitere Kostenlose Bücher