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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Washington und New York geschah, war ein Schock, der Mitgefühl in ganz Europa auslöste. Doch die Nachwirkung verblasste nach kurzer Zeit. Es gab keinen zweiten Angriff dieser Größenordnung. Bei Russland hingegen sah es in den 1990er-Jahren so aus, als sei das Land so geschwächt, dass es keine denkbare Gefahr für Europa darstellte. Als Russland nach der Jahrhundertwende wieder stärker und selbstbewusster wurde, gab es die Hoffnung auf eine strategische Partnerschaft und normale und freundschaftliche Beziehungen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen.
    Die osteuropäischen Länder teilten diesen Optimismus nicht, doch ihre Bedenken wurden nicht sehr ernst genommen. Im Westen herrschte das Denken, dass ihre Einstellung gegenüber Russland größtenteils von negativen historischen Erfahrungen geprägt war und dass sie nicht wahrnahmen, wie anders das neue Russland geworden war. Viele Europäer und einige Amerikaner glaubten aufrichtig an das Heraufdämmern einer neuen historischen Epoche, in der europäische Werte und die europäische Lebensweise (die sich in wichtigen Aspekten von der amerikanischen unterschied) in Zukunft den Ton angeben würden, dass Europa hinsichtlich der Menschenrechte dem Rest der Welt als leuchtendes Beispiel diene, dass kurzum der Rest der Welt darauf erpicht sei, so wie Europa zu werden, und es nur eine Frage der Zeit sei, bis er wie Europa werden würde. Kurz gesagt, war es nach Jahrzehnten der Angst oder zumindest geringer Hoffnung nur menschlich, diese Zeit durch eine Ära des Wunschdenkens zu ersetzen. Eine neue Welt war entstanden, eine Welt ohne Feinde, womöglich sogar ohne ernsthafte Rivalen.
    Doch selbst in einer Welt ohne Bedrohungen und Feinde bedurfte Europa einer Außenpolitik und einer strategischen Konzeption. In einer weiteren Konferenz (im Dezember 2009 in Lissabon) wurde der sogenannte Europäische Auswärtige Dienst (EAD) eingerichtet, ähnlich einem Außenministerium und einem diplomatischen Korps. Das schien die Antwort auf Henry Kissingers berühmte Klage von vor vielen Jahren zu sein (deren Authentizität allerdings bezweifelt wird), wonach, falls er Kontakt mit Europa aufnehmen wolle, es niemanden gebe, den er anrufen könne. Nun endlich gab es eine Person, die ans Telefon gehen konnte. Doch was könnte er (bzw. sie) antworten? Innerhalb weniger Wochen wurden ein Generalsekretär, zwei Stellvertreter und sechs Generaldirektoren berufen. Da die Bezahlung großzügig war und Bewerber für die übrigen Posten keine Überarbeitung zu befürchten hatten (es wurden bis zu 15 Wochen Jahresurlaub offeriert), wurden in kurzer Zeit mehr als 1000 EU-Diplomaten angestellt, denen noch mehr Anstellungen folgen sollten. Außerdem sollte noch eine diplomatische Akademie eingerichtet werden.
    Es gab widersprüchliche Interpretationen dessen, was in Lissabon beschlossen worden war. Einige behaupteten, dass die Mitgliedsstaaten mehr oder weniger das Recht aufgegeben hatten, Beschlüsse zur Außen- und Verteidigungspolitik im Rahmen ihrer Rechtsordnung auf Grundlage ihrer internationalen Interessen zu fassen. Im Gegensatz dazu sagten andere, dass in dieser Hinsicht nichts aufgegeben oder ratifiziert worden sei. Außenministerin Hillary Clinton erklärte in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der EU-Außenministerin Lady Ashton: »Ich erwarte, dass wir in kommenden Jahrzehnten auf den Lissabon-Vertrag und die Reifung der EU als einen wichtigen Meilenstein in der Weltgeschichte zurückblicken werden.« Eine solche Ansicht mag sich eines Tages durchsetzen, doch zu der Zeit wirkte dies wie eine große Fehlinterpretation dessen, was wirklich geschehen war; weder Frankreich noch Deutschland und sicherlich nicht das Vereinigte Königreich oder irgendein anderes Land hatten das Recht aufgegeben, größere Entscheidungen zur Außenpolitik und zur Verteidigung nach ihrem Gutdünken zu treffen. Genau genommen war den vielen EU-Institutionen, die oft dasselbe taten, nur eine weitere hinzugefügt worden.
    Nach dem Lissabon-Vertrag waren die Mitgliedsstaaten aufgefordert, ihre Handlungsweisen zu koordinieren und eine gemeinsame Verteidigungspolitik zu entwerfen. Jeder Mitgliedsstaat war verpflichtet, die anderen zu konsultieren, bevor er Maßnahmen auf internationaler Ebene ergriff, die den EU-Interessen zuwiderlaufen könnten. In der Vergangenheit war ein einstimmiges Votum vorgeschrieben gewesen. Nun wurde ein Mehrheitsvotum für zwölf unterschiedliche Bereiche der Außenpolitik

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