Europa nach dem Fall
geschlossen worden. Es stimmte, dass viele Häftlinge aus Guantánamo entlassen worden waren, aber viele europäische Länder hatten wenig Bereitschaft gezeigt, sie aufzunehmen. Dazu hatte es laute Proteste dagegen gegeben, die Betreffenden in ihre Heimatländer zurückzuschicken, wo sie erneut verhaftet werden würden. Einige Terroristen waren wieder aufgetaucht, die den Westen jetzt von neuen Stützpunkten im Jemen und anderswo bekämpften. Die Problemlösung war nicht leicht.
Amerika hatte Fehler gemacht; einige europäische Lösungen waren zweifelhaft oder illusorisch gewesen. Glaubten verantwortungsvolle europäische Staatsmänner wirklich, dass die UNO, wenn die Haltung des Weißen Hauses gegenüber den Vereinten Nationen und anderen internationalen Institutionen an Schärfe verlor (was ja auch geschah), zum ausschlaggebenden Faktor in Weltangelegenheiten werden und entscheidende Beiträge zur Lösung von Weltkrisen liefern würde? Die europäischen Erwartungen waren, vorsichtig formuliert, unrealistisch und beruhten auf der Erwartung, dass sich Amerika von einer unilateral gestalteten Politik unter Bush lösen würde, ohne dass sich die europäische Politik zu verändern brauchte, weshalb kein Bedarf bestand, amerikanischen außenpolitischen Initiativen größere Unterstützung zu gewähren.
Außenpolitische Fragen wie die nach der iranischen Bombe wollte Europa nicht anders als durch Diplomatie lösen. Und wenn es mit der Diplomatie nicht klappte, musste die Frage mehr oder weniger elegant von der europäischen Tagesordnung verschwinden. Ein unbekannter Habsburger Staatsmann des 17. Jahrhunderts hatte seinem Land geraten, sich nicht auf Kriege einzulassen, sondern seine Macht und seinen Wohlstand dadurch zu mehren, indem es einträgliche Ehen mit anderen Königshäusern schloss ( »Tu felix Austria nube« ). In ähnlicher Weise hatten weise Männer in den letzten Jahren der EU geraten, sich nicht auf eine riskante Außenpolitik einzulassen, sondern zu produzieren und sich als Händler zu betätigen. Das ließ sich nicht so leicht bewerkstelligen.
In Deutschland (wie auch in Frankreich, aber weniger in England) gab es eine Neigung, eine besondere Beziehung zu Russland (Deutschlands traditionellem Handelspartner) und auch zu China und anderen Ländern aufzubauen. Schließlich bemühte sich auch Washington um eine Neugestaltung der Beziehungen zu Russland. Doch die Erkenntnis kam schnell, dass es keine besondere Beziehung gab, die der EU (oder Deutschland oder Frankreich) große Vorteile bringen würde, die andere nicht auch erhielten. Einzelne Unternehmen mochten beträchtliche Profite einstreichen, was aber höchst selten der Wirtschaft eines Staates als Ganzes zugutekam. Öl und Gas aus Russland würden nicht billiger und der Zugang Europas zum chinesischen Markt würde nicht unkomplizierter werden. Der Zugang Europas zu bestimmten wichtigen Rohstoffen und insbesondere seltenen Mineralien sollte eher schwieriger und kostspieliger werden, da China viele solche verheißungsvolle Quellen vor allem in Afrika und Lateinamerika aufgekauft hatte. Des Weiteren hatte sich der Status der Menschenrechte in China und Russland seit maoistischer und sowjetischer Zeit sicherlich stark verbessert. Doch von einem Idealzustand, wie ihn Europa dem Rest der Welt predigte, war er noch weit entfernt. In Europa gab es eine geistige Strömung, die glaubte, dass Russland der NATO beitreten würde, wenn die NATO nur entgegenkommender wäre. Die Tatsache, dass der Großteil der politischen Führung wie auch die öffentliche Meinung in Russland die NATO immer noch als Hauptfeind betrachteten und dass es daher keine Chance auf eine Annäherung gab, wurde, wenn überhaupt bekannt, unterdrückt.
Gelegentlich wurde von einigen Beratern vorgeschlagen, die EU solle engere Beziehungen zu fundamentalistischen (aber nicht terroristischen) islamistischen Bewegungen aufnehmen. Das aber war nicht sehr beliebt in der öffentlichen Meinung in Europa, und auch im Nahen Osten herrschte keine große Begeisterung für eine solche Annäherung. Große Erwartungen (die bald enttäuscht werden sollten) wurden in den »Arabischen Frühling« von 2011 gelegt, der auf eine neue Ära der Demokratie, der Menschenrechte, der Stabilität und des Friedens im Nahen Osten und darüber hinaus hoffen ließ.
Einige europäische Politiker und politische Kommentatoren redeten sich ein, dass der israelisch-palästinensische Konflikt das wichtigste und gefährlichste
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