Europa nach dem Fall
und der Prozentsatz der europäischen Bürger, welche die EU mit Demokratie assoziierten, fiel unter 20 Prozent.
Als die Krise ihren Höhepunkt erreichte und sich die Gefahr abzeichnete, dass die Eurozone kollabieren würde, stellte ein vom spanischen Ministerpräsidenten Felipe González für die EU ausgearbeiteter Bericht fest: »Die Wahl für die EU ist klar: Reform oder Niedergang.« Doch was bedeutete eine Reform? Stärkere Zentralisierung der Macht, ohne Zweifel. Doch welche Garantie gab es, dass eine stärkere Zentralgewalt effektiver wäre? Und in wessen Interesse würde sie ausgeübt werden? Etwa um dieselbe Zeit stieß die EU die EU-2020-Strategie an, ein Projekt mit dem Ziel, die Union auf die Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts vorzubereiten, das Wachstum anzukurbeln, mehr und bessere Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft grüner und innovativer zu machen. Solche Bekundungen waren jedoch schon oft zu hören gewesen. Der Glaube, dass die EU am ehesten mit der Wirtschaftskrise fertig werden würde, war auf 26 Prozent gesunken, nur in einigen Ländern wie Belgien (das ein ganzes Jahr lang ohne Regierung geblieben war) und Polen war er höher, doch in anderen niedriger.
Was waren die Hauptsorgen der Europäer während der Krise? Sie sorgten sich vor allem um die wirtschaftliche Situation und die Arbeitslosigkeit. Andere Sorgen bezogen sich auf den Euro. In einigen führenden Ländern hatte die Ansicht an Boden gewonnen, dass die alte Landeswährung vorzuziehen gewesen wäre, und sogar in Griechenland herrschte der Glaube, dass sich mit der Drachme die Krise leichter hätte bewältigen lassen. Andere freimütig geäußerte Klagen bezogen sich auf die Geldverschwendung durch die Eurobürokratie.
Sogar in Osteuropa, das von der Mitgliedschaft in der EU gehörig profitiert hatte, verstärkte sich die Skepsis. Die neue Regierung, die im Juli 2010 in Prag unter Führung von Petr Ne č as zusammentrat, wurde von sachkundigen Beobachtern als »leicht euroskeptisch« beschrieben, wohingegen Václav Klaus, der Präsident der Tschechischen Republik, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Während der tschechischen Ratspräsidentschaft in der EU weigerte er sich, die europäische Flagge an seinem Amtssitz auf dem Hradschin aufziehen zu lassen. In einer seiner Reden verglich er die Europäische Union mit der Sowjetunion, was eine verstörende Feststellung war, weil seine Einstellung zu Russland keineswegs feindselig war.
Die Krise, um es auf den knappsten Punkt zu bringen, enthüllte die Schwäche der EU. Theoretisch wäre sie berechtigt (sogar verpflichtet) gewesen, ihre Bestimmungen durchzusetzen, insbesondere die über die Verschuldungsgrenzen der Staaten. Doch die großen Länder, welche gegen die Bestimmungen verstießen (Deutschland und Frankreich), wurden nicht bestraft, genauso wenig die kleineren. Würde aber die Krise nicht einen stärkeren Impuls zu strengeren Kontrollen in der Zukunft geben? Die Deutschen und noch einige andere Länder bestanden darauf (was eine mehr oder weniger automatische Bestrafung für Defizitsünder bedeutete), aber es gab großen Widerstand dagegen. Es wurde darauf hingewiesen, dass dies Änderungen in den bestehenden Verträgen bedeuten würde. Solche Änderungen ließen sich einführen, aber da waren auch noch andere Probleme. Es gab große Widerstände gegen Einschnitte bei den Sozialausgaben, etwa Kürzungen des Kindergelds oder eine Erhöhung des Pensionsalters. Der Abstand zwischen der Euro-Elite und den einzelnen Ländern Europas war keineswegs geschrumpft. Im Gegenteil, die Popularität Brüssels war auf einen Tiefpunkt gesunken. Die Eurokraten hatten es irgendwie nicht geschafft, beliebter zu werden oder zumindest ein Gefühl des Vertrauens und der elementaren Loyalität unter denen zu erzeugen, als deren Vertreter sie gewählt worden waren.
Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts veränderte sich das politische Gesicht Europas. Im Vereinigten Königreich, in Deutschland und in Frankreich waren linksgerichtete Regierungen durch konservativ-liberale ersetzt worden, doch auch sie verloren binnen kurzer Zeit an Rückhalt. Die skandinavischen Länder und die Niederlande wurden von konservativ ausgerichteten Koalitionen regiert, und in Italien schien sich Berlusconi auf ewig an der Macht halten zu können, bis sich 2010 auch in seiner Allianz deutliche Anzeichen von Sprödigkeit zeigten. Nur in Spanien blieben die Sozialisten an der Macht, doch
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