Europa nach dem Fall
sondern ging im Gegenteil hinaus und besuchte Schulen und Familien. Sie versuchte, das Milieu zu verändern, in dem viele der jugendlichen Straftäter aufwuchsen. Schließlich gab sie angesichts ihrer Erfolglosigkeit auf und beging im Juli 2010 Selbstmord.
Woher kommt die starke Aggressivität der Jugendbanden? Ihre mangelhaften Leistungen tragen zweifellos zur allgemeinen Unzufriedenheit bei. Die Frage der Identität (oder deren Fehlen) wird in diesem Zusammenhang oft erwähnt. Viele aus der jungen (zweiten) Generation fühlen sich weder in der Heimat ihrer Eltern noch in dem Land, in dem sie leben, wirklich zu Hause. Sie fühlen sich in Europa nicht akzeptiert und mögen ihr Gastland in allen Sprachen verfluchen, doch in der Türkei, in Nordafrika oder auf dem indischen Subkontinent fühlen sie sich noch weniger aufgehoben und haben nicht den Wunsch, dorthin zurückzukehren.
Sexuelle Unterdrückung ist beinahe sicher ein weiterer Faktor, der selten, wenn überhaupt, innerhalb der Gemeinschaften oder von außen stehenden Beobachtern besprochen wird. Es könnte gut sein, dass eine solche Unterdrückung (wie der französische Psychoanalytiker Tzvetan Todorov festgestellt hat) zusätzliche Aggressionen erzeugt, eine Beobachtung, der sich auch junge muslimische Frauen anschließen. Junge muslimische Männer können sich innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft dem anderen Geschlecht nicht ungezwungen nähern. Homosexualität gilt als Gräuel, wird aber laut vielen Berichten häufig praktiziert – wie seit jeher in der Geschichte. Die Ablehnung der Gesellschaft zeigt sich in vielerlei Weise, beginnend mit der Verschandelung von Mauern und Gebäuden bis zum Abfackeln von Autos (was in Frankreich zu einem Ritual geworden ist). In Extremfällen stellt sich der Drang ein, alles Vorhandene zu zerstören und alle Kräfte anzugreifen, selbst die Feuerwehrleute und die Krankenwagen, die zum Noteinsatz in die Ghettos eilen.
Sozioökonomische Faktoren sind auch geltend gemacht worden und dabei haben sich bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der Lage junger schwarzer Männer in den Vereinigten Staaten ergeben. Wenn nur mehr Stellen angeboten würden, wird oft behauptet, würde sich alles zum Besseren wenden. Das würde sicherlich einen gewissen Unterschied machen, doch viele Studien haben gezeigt, wenn solche Stellen angeboten wurden (wie in den Vereinigten Staaten unter Clinton), dann wurden sie überwiegend von Einwanderern aus der Karibik, aus Lateinamerika und dem Fernen Osten angenommen. Wie Orlando Patterson von der Harvard Universität es ausdrückte, werden kulturelle Erklärungen für die missliche Lage junger schwarzer Männer nur sehr widerwillig akzeptiert. Wie in Europa gelten diese Befunde nicht für schwarze Mädchen. »Warum rasselten [die jungen Männer] durch? [Die] freimütige Antwort lief … auf das hinaus, was die Soziologen die ›Coolness-Kultur‹ nennen«, die »zu lohnend war, um sie aufzugeben. Für diese jungen Männer war es fast wie eine Droge, nach der Schule auf der Straße abzuhängen, sich die schärfsten Klamotten zu besorgen, [dazu kamen] sexuelle Eroberungen, Partydrogen, Hip-Hop-Musik und -kultur.« Die jungen Männer fanden »diese Subkultur ungeheuer erfüllend, [und] es verschaffte ihnen erheblichen Respekt von einigen weißen Jugendlichen.« Dennoch war es nicht klar, warum Arbeitslosigkeit mehr oder weniger automatisch zu Verbrechen und Drogenhandel führen sollte; in Pakistan und Indien, in Nordafrika und Lateinamerika herrscht hohe Arbeitslosigkeit, aber es gibt weniger Drogenkriminalität.
Entsolidarisierung in der Europäischen Union
Die Gründe für das bisherige Scheitern des europäischen Projekts und für die derzeitige europäische Krise sind vielfältig und lassen sich nicht auf ein paar falsche Entscheidungen durch europäische Staatslenker und Bürokraten in Brüssel reduzieren. Die Entscheidung, den Euro ohne striktere politische und wirtschaftliche Kontrollen einzuführen, war sicherlich ein Fehler. Wenn die Zeit nicht reif war und wenn es nicht genügend Übereinstimmung gab, eine so weitreichende Entscheidung zu treffen, hätte die Entscheidung aufgeschoben werden sollen. Die wirklichen Gründe für die gegenwärtige Krise reichen natürlich beträchtlich weiter zurück; was zu einem historischen Zeitpunkt über Frankreich gesagt wurde (»Wir haben Frankreich erschaffen, lasst uns nun Franzosen erschaffen«), gilt verstärkt für Europa. Europa ist erschaffen worden, aber
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