Europa nach dem Fall
Erfordernissen entsprechend eingehalten worden.
Europa ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein postnationalistischer Kontinent genannt worden, doch diese Bezeichnung ist nur teilweise zutreffend. Es stimmt, dass alle bedeutenden europäischen Staaten (sowie auch die meisten kleineren) die Lektionen zweier verheerender europäischer Kriege gelernt haben und militärische Konflikte praktisch undenkbar geworden sind. Doch gleichzeitig gilt die Loyalität des Einzelnen und der Gruppe immer noch dem Mutterland und dem eigenen Volk. Und während selbst diese Loyalität wie auch die Bereitschaft, ihr Opfer zu bringen, schwächer geworden ist, so ist sie dennoch viel stärker als jede paneuropäische oder kosmopolitische Einstellung.
Ein europäischer Nationalismus, wie ihn sich der Philosoph Jürgen Habermas vorstellt, ist keine politische Realität. Habermas glaubt, dass Europa eine Verfassung braucht und dazu einen darauf beruhenden verfassungsmäßigen europäischen Nationalismus. Doch so eine Verfassung sollte nicht verordnet werden; die Menschen sollten sich frei dafür entscheiden. Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass gegenwärtig eine Mehrheit in Europa (und womöglich nicht einmal eine signifikante Minderheit) für so eine Verfassung stimmen würde. In gewisser Weise erinnern diese Vernunfteuropäer an die »Vernunftrepublikaner« der Weimarer Republik, die anständige und ehrenwerte Menschen waren, die voll und ganz für parlamentarische Demokratie waren, sie aber nicht besonders mochten und sich nicht weiter verpflichtet fühlten, sie aktiv zu unterstützen. Das waren nicht die Leute, die für ein vereintes Europa auf die Barrikaden gingen, wie es Victor Hugo und Giuseppe Mazzini getan hätten, und sie wurden sowieso mit Waffengewalt überstimmt.
Europäische Solidarität und europäisches Nationalgefühl könnten sich vielleicht in einem längeren Zeitraum (in zehn Jahren, wie Bundesminister Wolfgang Schäuble meint, und in 50 Jahren, wie es Habermas sieht) entwickeln, weil die dringende Notwendigkeit und der ökonomische und politische Druck es verlangen – mit anderen Worten, als Ergebnis einer tiefen Krise. Doch ob Europa bei einem echten Notstand noch stark genug sein wird, sich auf einen solchen Bruch mit seiner Vergangenheit einzulassen, ist ungewiss.
Warum sollte die Anziehungskraft des Nationalismus und des Nationalstaats so viel stärker sein? Die Vereinigten Staaten von Europa schienen als Idee schließlich ein vielversprechender und aufregender Auftakt zu sein und hätten Begeisterung wecken sollen. Der Nationalismus hatte sich über Generationen organisch entwickelt, doch nach Meinung einiger Forscher auf diesem Gebiet war es ein relativ junges Phänomen – aus dem 19. Jahrhundert datierend. Doch offensichtlich hatte er tiefe Wurzeln. Die Idee, dass es dulce et decorum (»süß und ehrenhaft«) sei, für seine patria (»Heimat«) zu sterben, ging schließlich auf das Römische Reich zurück. Die patria , der Clan, die Familie, die Kultur, die gemeinsame Sprache, all das lieferte Anknüpfungspunkte, die größere Einheiten nicht bieten konnten.
Wenige Leute sind bereit gewesen, eher für die Menschheit als für klar umrissene Ziele zu sterben. Experten streiten sich über die Anziehungskraft der Nation und des Nationalismus, über die Motive und die Kraft, die ihre Forderungen auf Einzelne ausüben. Doch was auch immer bei ihren Diskussionen herauskommt (und es gab nie Zweifel, dass ein chauvinistischer Nationalismus schlecht war), die Loyalität zur Nation, zu ihren Werten und Interessen hat sich als stärker erwiesen als jede andere Ideologie oder Emotion, wie sehr sie vernunftmäßig auch überzeugend sein mag.
Insbesondere unter der Intelligenzija war die Auffassung stark verbreitet, dass Europa (und das jeweils eigene Land) keine Zukunft hätte, außer in einem breiteren europäischen Rahmen. Doch eine solche Auffassung war und ist bei Weitem nicht universal. Es stand außer Zweifel, dass Kompromisse eingegangen werden mussten, doch dass die Interessen der Nation immer den höheren Interessen einer Europäischen Union untergeordnet werden müssten, erschien abstoßend, und zwar nicht nur den Euroskeptikern, sondern auch der Mehrheit der Bürger.
Die historischen Unterschiede zwischen den Völkern Europas sind groß – in ihrer Kultur, ihrer Mentalität und ihrer Lebensweise; in den gesprochenen Sprachen, in ihren Interessen, ihrem Aussehen (trotz der Vermischung zahlreicher
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