Europa nach dem Fall
wo waren die Europäer, wo blieb die europäische Solidarität?
Die Idee der Solidarität (und auch der Notwendigkeit dazu) ist steinalt. Sie findet sich in der Bibel und zieht sich durch die ganze Antike und das Mittelalter. Sie kommt in der christlichen, muslimischen und jüdischen Religionslehre vor und bei den frühen Sozialisten und Kommunisten (Ernst Buschs berühmtes Loblied auf die Solidarität: »beim Hungern und beim Essen – vorwärts, und nie vergessen«; Text von Bertolt Brecht, Musik von Hanns Eisler).
Es gab jedoch nicht so viel internationale Solidarität im 20. und frühen 21. Jahrhundert, außer sporadisch bei größeren Naturkatastrophen. Auf internationaler Ebene war die Tendenz eher zentrifugal mehr auf Trennungen als Vereinigungen ausgerichtet, sogar in Europa, was Jugoslawien aus der jüngsten Geschichte und Belgien als aktueller Fall beispielhaft veranschaulichen. Dieser Trend lässt sich nicht leicht ergründen. Das Argument, das sei nicht erheblich, weil in einem vereinten Europa alle kleinen Gruppen ihren Platz finden würden, ist nicht sehr überzeugend. Denn wenn diese Gruppen, die ihre Interessen an erste Stelle setzen, schon in einem kleineren Rahmen nicht harmonisch miteinander auskamen, wieso sollte es in einem größeren wie Europa mehr Harmonie geben? Ein solches Europa wäre wie ein Mosaik aus sehr kleinen Steinen; das Zusammensetzen würde selbst die Geduld und die Stärke eines Sisyphus übersteigen.
Die Entsolidarisierung zeigte sich auch innerhalb der Gesellschaften. Es gab weniger Unterstützung für den Wohlfahrtsstaat, nur 36 Prozent 2010 verglichen mit 58 Prozent zur Zeit Margaret Thatchers. 1992 dachten 58 Prozent der Briten, dass die Regierung mehr für Sozialleistungen ausgeben sollte; 20 Jahre später war der Wert auf 27 Prozent gefallen. Zur gleichen Zeit waren nur 36 Prozent für die Umverteilung des Einkommens von den Reichen auf die Armen, verglichen mit 51 Prozent 20 Jahre vorher. Diese Stimmung wird sich wahrscheinlich mit steigender Arbeitslosigkeit ändern.
Diese Trends überraschen, weil die Einkommensschere in den meisten europäischen Staaten immer weiter aufgegangen ist (wie im Rest der Welt), während andererseits die Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem, der Bildung und anderen Dienstleistungen höher denn je war.
Erklärungen fallen nicht leicht. Womöglich haben sie mit dem großen Unmut über den Missbrauch des Sozialsystems zu tun, besonders die Hilfsleistungen für Neueinwanderer, die nicht arbeiteten (beispielsweise Frauen in islamischen Haushalten, denen es verboten war, ihre Wohnungen ohne Begleitung zu verlassen). Allgemein gesprochen herrscht das Gefühl, dass die Einwanderer einen unverhältnismäßig hohen Anteil des Sozialbudgets erhielten, das von den stark besteuerten einheimischen Söhnen und Töchtern aufgebracht werden musste. Nichtsdestoweniger waren wenige Menschen in Europa bereit, den Wohlfahrtsstaat abzuschaffen, der in kurzer Zeit zu einer dauerhaften Einrichtung geworden war, ein als selbstverständlich angesehener Teil der Lebensweise in Westeuropa.
Wie lässt sich das Ausbleiben internationaler Solidarität erklären, das seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und eigentlich bis jetzt so offensichtlich gewesen ist? Lag es an dem der kapitalistischen Weltordnung innewohnenden Konfliktpotenzial? Doch Marx und seine Anhänger, legitime wie illegitime, hatten bis zum Zeitalter der Globalisierungsgegner gelehrt, dass der Kapitalismus nicht nur soziale Bindungen wie die Familie, sondern auch nationale Grenzen niederriss. Wieso wurden dann Nationalismus und Nationalstaat immer stärker?
Das Widerstreben, bankrotte Staaten wie Griechenland zu retten, spiegelt den Widerstand wider, denjenigen zu helfen, die das Sozialsystem in ihrem Haushaltsbereich missbraucht hatten. Aber war es nicht eine Illusion, ein Zusammenwachsen der Vereinigten Staaten von Europa zu erwarten, wobei alle Mitglieder verantwortlich und verlässlich wären, altehrwürdige nationale Gepflogenheiten überwänden, ihre Lebensweisen einander anpassten, weitreichende Zugeständnisse machten und viel von ihrer Souveränität preisgäben – und all das innerhalb von wenigen Jahrzehnten?
Es war unrealistisch, einen raschen Mentalitätswandel zu erwarten. Es wäre bei Weitem vorzuziehen gewesen, wenn so ein schwieriger Prozess ein, zwei oder gar drei Jahrhunderte Zeit zur Entfaltung gehabt hätte. Leider sind in der Geschichte Zeitpläne selten den
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