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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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ethnischer Gruppen); kurzum, in ihrem jeweiligen Nationalcharakter, um einen zweifelhaften Begriff zu verwenden. Es gibt natürlich beträchtliche Unterschiede auch innerhalb von Staaten, nicht nur in Italien, der Schweiz oder Belgien, sondern auch in größeren Staaten wie Deutschland und Frankreich, und zufriedenstellende Lösungen sind nicht überall gefunden worden. Doch schon die Tatsache, dass es nicht einfach war, einen Weg zur nationalen Einheit zu finden, zeigt an, wie viel schwieriger der Bau einer Straße zu einem solidarischen europäischen Nationalgefühl wäre.
    All diese Schwierigkeiten sind in den letzten Jahren durch den Zustrom von Einwanderern aus anderen Kontinenten verstärkt worden. Diese Probleme verweisen darauf, dass das Europa von morgen, vereint oder nicht, ganz anders sein wird als das, das wir kennen. Die große Mehrheit der Menschen würde dem Vorschlag zustimmen, dass sie die Hüter ihrer Brüder sein sollten, doch eine solche Solidarität erstreckt sich nicht auf Menschen, denen gegenüber sie keine verwandtschaftliche Beziehung empfinden.
    Vor Kurzem erst hat sich ein Autor im Economist über die landläufige Meinung beklagt, die das derzeitige Europa als ausgelaugt, alternd und wirtschaftlich stagnierend bezeichnet, als einen Kontinent, der unausweichlich darauf zusteuert, nicht nur gegenüber den dynamischen Vereinigten Staaten, sondern auch gegenüber China und Indien an Boden zu verlieren. Solche Klagen über eine Fehleinschätzung der Lage Europas waren oft anzutreffen in Reden, Büchern und offiziellen Erklärungen, die von Optimismus erfüllt waren. Doch dann änderte sich die Stimmung allmählich und die Reden und die Literatur beschäftigten sich nun unaufhörlich mit den großen Schritten, die China und Indien machten, und mit der erbärmlichen Bilanz Europas.
    Eine herkömmliche Meinung ist wie herkömmliche Medizin nicht immer falsch, genauso wenig ist das Phänomen von Aufstieg und Fall keineswegs beispiellos. Die Geschichte ist nichts anderes als die Erzählung vom Aufstieg und Fall von Ländern und Kulturen. Große Mächte nehmen zu und wieder ab. Keine hat ewigen Bestand, und einige sind ganz verschwunden. Sie sind aus einer Vielzahl von Gründen in Verfall geraten; einige aus wirtschaftlichen Ursachen, andere, weil sie im Krieg besiegt wurden, einige, weil sie im Lauf der Zeit an Erschöpfung litten und den Willen oder die geistige Kraft verloren und nicht mehr darauf achteten, sich zu vermehren. Gibbon schrieb, dass die alten Griechen dachten, Rom habe sich ihrem Land nur aufgrund von »Glück« als überlegen erwiesen, also aufgrund reinen Zufalls. Zumindest teilweise lag es an Glück, dass das Oströmische Reich das Weströmische um 1000 Jahre überdauert hat.
    Die Frage, warum Nationen verfallen sind, führt zu endlosen Diskussionen. Wenn die Geschichte des Niedergangs Europas im 20. Jahrhundert geschrieben werden wird, mag darin durchaus die Frage auftauchen, warum die europäische Dominanz so lange dauerte. Zuwanderung mag eine bestimmte Rolle beim Niedergang von Nationen gespielt haben, doch an sich hat Zuwanderung Nationen so oft gestärkt wie geschwächt. Sowohl die mittelalterliche als auch die moderne Geschichte ist eine Geschichte von Zuwanderungen – denken wir beispielsweise an die europäische Auswanderung nach Nord- und Südamerika (Italiener und Spanier), an die nach Deutschland und in andere europäische Länder emigrierenden Hugenotten, an die polnische Einwanderung nach Frankreich und Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts, an die russische Emigration nach Frankreich nach 1917, an die aus Osteuropa einwandernden Juden, an chinesische und indische Zuwanderer, die größere Gemeinschaften in Südostasien und sogar Afrika bilden. Sehr oft sind es die unternehmungslustigeren Elemente gewesen, die ihre Heimatländer aus welchen Gründen auch immer verlassen haben, und beide Seiten profitierten davon. Die Zuwanderer arbeiteten sich in der Gesellschaft hoch, und die Länder, die sie absorbierten, profitierten von den Fähigkeiten und Talenten der Neuankömmlinge.
    Starke, selbstbewusste Gesellschaften haben es fast immer geschafft, solche Zuwanderungsströme zu absorbieren und das Beste daraus zu machen. Es hat immer anfängliche Schwierigkeiten gegeben; selbst in einem Einwanderungsland wie den Vereinigten Staaten dauerte es lange Zeit, bis die Iren und die Juden, gar nicht zu reden von der »gelben Gefahr«, angenommen wurden. Manchmal war es für die

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