Europe Central
russische Langeweile genannt hätte. Mit Glikmann eilte er zu einem neuen Dynamo-Spiel. Peki Dementijew legte einen Schuss hin, der war wirklich … Ängstlich warfen seine Hände Takte aufs Papier und erschufen dann Noten, die sich an diese Takte klammerten und aus ihnen hervorlugten. Tuchatschewski hatte gesagt … Und so hatte er, bevor es ihm wirklich
bewusst wurde, seine 4. Sinfonie vollendet, die in c-Moll (op. 43), aber die herzlichen Glückwünsche jenes Lakaien der Kapitalisten, Otto Klemperer, der damals auf Beethoven-Tournee durch Moskau und Leningrad kam, machten seine Lage nur noch gefährlicher. Am Tag darauf brachte Nina ihr erstes Kind zur Welt, Galina. Auf dem Telegramm mit den Glückwünschen stand Klemperers Name ganz oben. Das würde man bestimmt gegen ihn verwenden – was nicht heißen soll, dass er Klemperer, der mit ihm in seiner Wohnung Wodka getrunken und für den er Klavier gespielt hatte, nicht mochte; Klemperer hatte sich verzückt zurückgelehnt, und Mitja hatte sich in den Tagtraum verloren, man schreibe wieder das Jahr 1932 oder 33, und er wäre noch immer das Junggenie unserer Sowjetunion, dessen Lied man freudvoller singen würde. Und was war heute mit Rodtschenko? Was war mit Dsiga Wertows experimentellen Mischungen aus Wassergeräuschen, Maschinenlärm und Sprache? (Tuchatschewski hatte in die Hände geklatscht und applaudiert.) Was mit der Achmatowa, mit Mandelstam oder, da wir schon dabei sind, einem gewissen D. D. Schostakowitsch? Der gute Marschall Tuchatschewski hatte sie alle wieder groß gemacht; denn er war einer von ihnen – ein einschüchternder Mann, das schon (Elena hätte ihr englisches Lieblingswort benutzt: creepy) , aber dennoch ein, ein, wie soll ich sagen, ein Neuerer, der Experimente und Scharfsinn bewunderte, und bekam er nicht immer noch, was er wollte? Oje, ach ja, Elena, du hättest mich eindeutig heiraten sollen! Denn dann hätten Ninuscha, du und ich … Er legte den Kopf schief, im Austausch vertraulicher Bemerkungen über die kompositorischen Geheimnisse Mussorgskis. Klemperer war beinahe betrunken. Mitja war beinahe so weit, ihm zu verraten, bei genau welchem Akkord er in allen Regenbogenfarben schillernde Eiszapfen vor sich sah. Bald würden sie so laute Trinksprüche auf ihn ausbringen, dass seine Mutter aufwachte; W. W. Lebedjew würde allen Anwesenden befehlen, die Vollkommenheit seiner Lieblingsmannschaft anzuerkennen, zufällig hieß sie auch Dynamo; Glikmann saß in einer Ecke und verwöhnte Schostakowitsch mit seinem Heldenverehrungs-Blick; Nina war noch immer verliebt in ihn, wirklich verliebt; er näherte sich der Schwelle seiner allerersten Begegnung mit Elena Konstantinowskaja, nicht dass sie dann richtig, wie soll ich mich da verständlich machen? Und dann war alles genauso wie immer, die Gäste waren gegangen (Klemperer hatte die vorletzte Straßen
bahn erwischt), und er war allein und komponierte Musik, perfekt beim ersten Wurf. Er glaubte wieder an sich. Unter den Klaviertasten gab es einen strahlenden weißen Ort mit schwarzen Schatten, wo, Sie wissen schon, ich vermute, ihn wärmte ungefähr um diese Zeit jemandes langes schwarzes Haar, und jemandes weißes Gesicht strahlte heller als der Mond, und jemandes rote Lippen schraubten sich spiralförmig einwärts.
In diesem Geist las er noch einmal die Partitur der 4. Sinfonie und konnte nichts Fehlerhaftes entdecken, und genau deshalb spielten die verängstigten Musiker auf der Probe schlecht und fixierten ihn mit dem furchtsamen und traurigen Blick russischer Ikonen, denn diese Komposition roch so scharf nach Formalismus, dass man ihnen schon die reine Mitwirkung als Provokation auslegen konnte. Und so bat man ihn ins Büro des Dirigenten.
Welches Schweigen hätte lauter schweigen können als die geräuschlose Angst, die sich dem Orchester in diesem Augenblick entrang? Die Musiker zündeten sich allein ihre Zigaretten an und scheuten vor ihren eignen Instrumenten zurück, als stünden sie unter Strom. Als er nach unten zurückkehrte, aschfahl und verschwitzt, erklärte er, er habe die persönliche und völlig freiwillige Entscheidung getroffen, die Sinfonie zurückzuziehen. Erst Ende 1961 sollte sie aufgeführt werden.
Er ging nach Hause, um es Nina zu sagen. Als ihre eigene Mutter im Gefangenenlaster davongefahren worden war, hatte sie keine Miene verzogen, jetzt brach sie in Tränen aus.
14
Ihm träumte, er gehe durch eine verschneite Straße in Moskau. Die Gorki-Straße
Weitere Kostenlose Bücher