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erschossen hätten, wäre das früher erledigt worden und vor allem, sozusagen, professioneller.
52 Wir sind keine Profis. Das ist absurd. – Er bemühte sich wirklich (er wollte seinen Beitrag leisten), schaufelte so krampfhaft wie die anderen, das breite graue Gesicht zu einem Grinsen erstarrt. Schließlich versetzte die Partei ihn zu einer Feuerschutzbrigade auf den Dächern …
Ein Porträt von Sowfoto zeigt ihn auf dem Dach des Konservatoriums, in der hellen Öljacke eines Feuerwehrmannes, die Hände in Fäustlingen aus dem gleichen glänzenden Material, eine doppelt gegürtete Schärpe um die Hüften, mit einem Schulterriemen, der unter dem Kragen hervorkommt. Unter dem hellen, glänzenden Helm blickt sein zartes Gesicht uns durch die runde Brille an. Das Dach hat eine seltsam verschrobene Anmutung, wie das Bühnenbild für ein surrealistisches Ballett. Vom Dach des Konservatoriums blickt er auf die Kuppeln der Nikolaus-Kathedrale, die einmal vergoldet waren und hell und einzigartig glänzten; nun sind sie so grau wie ein trüber Tag. Inzwischen hatten unsere Alpinisten auch den Turm der Admiralität erklettert und ihm einen grauen Tarnanstrich verpasst. Er hatte Nina gefragt, wovor sie wohl Halt machen würden. Würden sie uns als Nächstes die Klaviertasten grau anmalen? Es sieht jedenfalls ganz danach aus, als könnten sie sich, du weißt schon, nicht mehr bremsen. Und da kommt wieder eine deutsche Granate; oje, ach ja, sie spielen ihre Études …
Zwischen zwei Luftangriffen arbeitete er an seiner Partitur. Von den
anderen Dächern konnte er die Flakgeschütze senkrecht aufragen sehen wie Kontrafagotte. Leningrads Straßen waren inzwischen meistens so leer wie das Papier, auf dem seine Noten, zu Akkorden oder Takten verbunden, wie Insekten aussahen, die im Drahtverhau zappelten. Manchmal hatten diese sterbenden Tiere nur noch ein Bein, an denen noch ein Kopf, ein Brustkorb und Unterleib hingen; manchmal machte leerer Drahtverhau die hohe Sterberate bildhaft; oft schuf er böse, vielköpfige Insekten mit borstigen Beinen (poco animato) . Die wenigen Freunde, die sich noch nicht abgewandt hatten oder verschwunden waren, gratulierten ihm zu der wichtigen Aufgabe, die man ihm übertragen hatte. Er senkte den Kopf und antwortete mit seiner Parodie eines Lächelns: Ich, ich, ich möchte etwas über unsere Zeit schreiben.
53 – Ihr Lob regte ihn nur noch mehr auf, denn immer wieder merkte er, dass er sich in den Menschen irrte; er glaubte, seinem Freund oder seiner Geliebten könne er trauen, und musste erfahren, dass alle schlecht waren; auf niemanden konnte er sich verlassen, außer vielleicht auf Glikmann, Sollertinski (der weit weg war und bald bei einem Unfall ums Leben kommen sollte), Lebedinski, Elena Konstantinowskaja, die sich gern Ljalja nennen ließ und die er besser nicht mehr traf, sonst …
Eines Tages kamen auf seinem Dach drei wohlgenährte Männer vom NKWD zu Besuch, sie trugen glänzende Schaftstiefel. Kein Problem; er hatte gerade nichts anderes zu tun, als durch einen geborgten Feldstecher die nahenden Bomber im Blick zu behalten. Unten auf den Straßen konnte er Menschen in den Schützenlöchern sehen und Menschen, die an den Eckhäusern Unterstände bauten. Es war Zeit für das tägliche Scherzo; die Lautsprecher, unser letzter Verteidigungsring innerhalb der Mauern aus Stahl und Beton, gaben den Befehl aus, in Deckung zu gehen. Aber die Männer in den himbeerfarbenen Stiefeln wirkten überhaupt nicht ängstlich, und dafür bewunderte er sie. Sie befragten ihn nach der Sinfonie, die er in Arbeit habe. Wo er die Partitur verwahre? In seinem Kopf, erklärte er ihnen, bis auf das Gekritzel, das er in den Taschen hatte, und sie drohten ihm mit Strafe, worauf er beinahe lachen musste; sie waren so, so, nun ja. Er könne natürlich gerne das Tempo anziehen … Und nun liefen unter ihnen die rundgesichtigen Fabrikarbeiterinnen mit ihren Kopftüchern an der Leninstatue vorbei, was sie wirklich schon vor neunzig Sekunden hätten tun sollen, und die Flakgeschütze fingen an zu feuern, und einer unserer klobigen Pan
zer, der stolz die Worte trug:, versuchte, sein Geschützrohr zum Hitlergruß zu erheben, aber da waren die Flugzeuge schon über ihnen, Bomben pfiffen herab, und der Panzer flog in die Luft. Brauner Rauch! Wie soll ich das musikalisch darstellen? Das ist es doch, was diese Schweine wollen. Ich schreibe ihnen einfach ein fröhliches, Sie wissen schon, Kreuzworträtsel. – Sie
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