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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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wirklich sehr vorsichtig sein. Wenn Sie also bitte …
    Ich danke Ihnen für Ihre Kritik. Wer Ohren hat, höre. Ich merke schon, ich werde lange über diese Dinge nachdenken müssen, Genosse Petrow …
    Aber bitte, Dimitri Dimitrijewitsch, das alles soll wirklich nicht vom Majestätischen Ihrer Sinfonie ablenken. (So ein Schwachsinn!, warf der Genosse Alexandrow ein.) Sie ist wirklich sehr eindrucksvoll, besonders die lauten Teile.
    Ich bin sehr dankbar …
    Aber Sie müssen schneller arbeiten. Können Sie in einer Woche fertig sein?
    Eine Woche ist vielleicht, sozusagen, etwas …
    Sie ist wirklich ganz gut. Man kann kaum noch ein Tröpfchen Ihres alten Individualismus darin entdecken …
    Danke, danke, mein lieber Freund. Nun, unser Leben ist gerade jetzt voller glänzender Themen …
    Sie rieten ihm, dem Beispiel seines Kollegen Chrennikow zu folgen, der ihn schon immer schikaniert hatte und noch bis zur letzten Minute schikanieren würde und aus diesem Grund, neben anderen ähnlichen Gründen, der Kapitulation Berlins würde beiwohnen dürfen. Schostakowitsch versprach folglich, dem Leitstern dieses Genies zu folgen. (Wie ich Elena zu sagen pflegte, ich bin ein Mensch mit einem, wie soll ich mich beschreiben? Mit einem sehr schwachen Charakter. Ich bin mir nicht sicher, dass ich zum Glück fähig bin.)
54 Der dritte Mann spuckte aus. Dafür noch einmal Dank, lieber Freund. Auf jede nur erdenkliche Weise handelte er, als hätten sie über ihn triumphiert, als hätte er ihren Dreck tatsächlich geschluckt. Könnte einer von ihnen auch nur
die Dominante einer beliebigen Tonleiter benennen? Gut gut; handwerkliches Wissen wird gewiss, wie soll ich sagen, überbewertet, besonders wenn man nur wissen muss, wie man – ha, ha! – Knochen bricht.
    Sie erinnerten ihn, als hätte er es je vergessen können, wo die Lautsprecher es doch täglich herausplärrten, an den Erlass des Genossen Stalin, nach dem jeder Soldat, der sich ergab, die Todesstrafe verdiene. Er wolle sich doch nicht dem Defätismus hingeben, oder? Dann ernannten sie ihn zum Direktor des Theaters der Heimatfront, und er komponierte augenblicklich siebenundzwanzig Schlager.
    Ende der Woche summte ganz Leningrad seinen »Schwur des Volkskommissars«, ein im Grunde sehr, wie soll ich sagen, kompliziertes Lied, denn die Komposition tut nur verblödet. Die »Organe« dankten es ihm; sein Lied endete mit einem Lob der Feldherrenkunst des Genossen Stalin. Als er vom Konservatoriumsdach herabblickte, sah er einen Trupp Jungs aus dem Komsomol, die noch mehr Fabriken und Brücken verminen wollten. Eines Tages würde sein Sohn mit ihnen ziehen, wenn er lange genug lebte. Sie sangen den »Schwur des Volkskommissars«, zweistimmig.
    Im Zeitalter des totalen Krieges konnte man das Verhätscheln von Musikern als Schwäche auslegen. Aber unsere Apparatschiks wussten es besser. Musik steigerte die Produktivität und lenkte die einfachen Arbeiter von gefährlichen Gedanken ab. Außerdem war Musik alles, was wir gerade anzubieten hatten. Die 7. und 23. Armee der Nordfront, die 8., 11. und 27. Armee der Nordwestfront – im Ganzen neununddreißig Divisionen und zwei Brigaden – hielten gegen die Faschisten stand, erlitten aber tausendfache Verluste. (Viele Soldaten waren von der-Totenkopfdivision beseitigt worden.) Und die gedrungenen, propellergetriebenen MiG-3-Flugzeuge im Formationsflug über Leningrad, die waren einfach noch nicht ganz so weit; erst mussten wir unsere Flugzeugfabriken außer Reichweite Hitlers umsiedeln, und dann würden wir, sozusagen, Sie wissen schon. Wo blieben die T-34-Panzer? Warten Sie noch zwei Jahre, wir hatten noch keine Panzerarmeen. Deshalb sangen an jeder Straßenecke die Lautsprecher (die Achmatowa war im Radio); deshalb fand man selbst an den Ufern des Weißmeerkanals, dessen Bau hunderttausend Todesopfer gefordert hatte, gelegentlich Gefangenenorchester, auf Betonplatten kauernd, die Blasinstrumente herunterhängend wie die Schnäbel sterbender Raben, und sie spielten aufrüttelnde Musik.
    Aber diesmal müssen Sie breitere Zuhörerschichten ansprechen, Dimitri Dimitrijewitsch.
    Das versteht sich doch von selbst, Genossen! Ich, ich folge eurer brüderlichen Führung …
    (Spät an jenem Abend, als er Nina sah, flüsterte er ihr diesen Spruch ins Ohr, und sie tat lachend, als würde sie ihn ohrfeigen. Dann sprang sie auf, um nachzusehen, ob jemand an der Tür gelauscht hatte.)
    Und so ging es dahin. Dreißig Jahre später

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