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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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erschraken nicht, also tat er es auch nicht. Die Flugzeuge drehten ab; an der Richtung, in die sie flogen, konnte er nicht erkennen, ob sie nach Siwerskaja oder Gatschina zurückkehrten, Orte, die jetzt in der Hand von Hitler, dem Befreier waren; er hätte mit den Männern vom NKWD darüber geplaudert, aber mit ihnen zu plaudern hat noch nie jemandem genützt, und außerdem drohten sie ihm schon wieder, wenigstens zwei von ihnen, und wahrscheinlich waren das nicht einmal Drohungen, das war nur ihre professionelle Art, ihm mehr Musik abzumelken; der dritte beugte sich über die Dachkante und spuckte aus. Die Menschen kamen wieder aus ihren Löchern. Wie viele Tote? Normalerweise versuchte er zu zählen, aber jetzt war er gerade, nun ja, abgelenkt. Selbst als sie ihn an seine Vergangenheit als Volksfeind erinnerten, war ihm das egal, im Augenblick zumindest; jede Nacht war er demselben Alptraum ausgesetzt – eine lange Kolonne behelmter Deutscher kroch durch einen Schlitz, den sie in die Erde gegraben hatten, auf ihn zu – wie sollte er da Angst vor diesen Trotteln hier haben? (Aber an jenem Abend erzählte er Nina, dass er Besuch bekommen hatte, und sie zitterte.) Sie »luden ihn ein«, unten an einem der Flügel des Konservatoriums für sie zu spielen, was heißen sollte: Wenn er seine Akkordquote nicht erfüllt hatte, drohten ihm die Front, das Gefängnis oder die nächste Mauer. Gut, gut; schon zu Studentenzeiten hatte er bei einer unangekündigten Prüfung nie versagt, also zum Teufel mit ihnen. Sie gingen nach unten, vorbei am Fenster mit den zerbrochenen Scheiben und dem Blick auf die halb zerstörte Mauer mit dem Plakat:Sie ließen ihn vorangehen. Warum auch nicht? Er kannte diese Treppe besser als sie. An welchen Flügel sollte er sich jetzt …? Nicht an jenen, an jenem hatte er für Elena das Opus 40 gespielt. Lieber dort … Sie zündeten sich ihre Zigaretten an und saßen gähnend da, während er die ersten fünfhundert Takte seiner 7. Sinfonie spielte. Sie unterbrachen ihn und wollten wissen: Gab es da irgendwelche Reste von Formalismus?
    Schostakowitsch schwor ihnen, diesen Fehler mache er nicht noch einmal.
    Können Sie ein wenig mehr Opferbereitschaft hineingeben, Dimitri Dimitrijewitsch? Und vielleicht …
    Keine Sorge, keine Sorge, ich werde tun, was ich kann, murmelte der Komponist müde.
    Und Heldenmut? Jetzt mal herhören! Wir wollen rüberbringen, dass jeder das Zeug zum Helden hat.
    Heldenmut finde ich ganz toll, sozusagen. Ich baue jetzt gleich etwas ein.
    (In weiter Ferne feuerte unsere Schwarzmeerflotte ihre Geschütze ab. Glikmanns Bruder Salomon war eben gefallen. In größerer Nähe ließ Feldmarschall Ritter von Leeb die Kesselpauken erdröhnen. Auf der anderen Straßenseite umklammerte ein stinkender, hohlwangiger Mann seine Handvoll Brot. Tag für Tag hockte er dort. Wenn er ihn doch nur in seine Sinfonie einschreiben könnte. Er würde schon einen Weg finden.)
    Mehr Optimismus vielleicht, habe ich gesagt.
    Nun, man könnte meinen, dass …
    Wir glauben, Sie haben noch nicht gemerkt, wie lebensbejahend die Menschen in Leningrad sind. Schließlich haben hier im Bürgerkrieg Tausende gehungert, aber das konnte Leningrad nicht kleinkriegen!
    Daran können Sie sich gar nicht erinnern, oder, Dimitri Dimitrijewitsch? Sie waren zu gut behütet durch Ihre privilegierte Herkunft.
    Bitte entschuldigen Sie, aber in Wahrheit, nun, mein Großvater …
    Über diesen Großvater wissen wir genau Bescheid. Ihr Glück, dass er tot ist.
    Wenn Sie zum Beispiel ein paar Takte in Dur umschreiben würden …
    Ich verstehe, sagte Schostakowitsch mit starrem Lächeln. Das würde es bestimmt unermesslich viel besser machen, wenn auch in diesem Fall vielleicht …
    Und dann das sogenannte Rattenthema oder Faschisten-Thema oder was immer das ist, nun, ganz ehrlich, Dimitri Dimitrijewitsch, da gibt es Bedenken. Wie lang ist es?
    Wie lang ? Mal sehen, mal sehen; zweihundertachtzig Takte, glaube ich. Warum ist die Länge denn wichtig?
    Kein Wunder, dass die Konstantinowskaja ihn verlassen hatte! Haben Sie jemals eine Frau befriedigt, Schostakowitsch? Ich weiß, warum sie dich einen Onanisten nennen!
    Nein, kein Problem, Dimitri Dimitrijewitsch. Das ist nicht wichtig. Wir fürchten nur, dass es zu melodisch beginnt, was die Massen in die Irre führen könnte, dazu, zu glauben …
    Dass ich Ratten mag?
    Der alte Witzbold!
    Dass ich, sozusagen, ein Hitlerianer bin?
    Und das aus Ihrem Munde! Sie sollten

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