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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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erzählte sie, musste sich jemand übergeben, und man hatte schon vorher kaum Luft bekommen. Niemand wusste, wohin der Gefangenenlaster fuhr, ob zum nächsten Durchgangsgefängnis oder zu einer Grube im Wald. Er nahm sie in die Arme, seine Lippen zitterten; er hätte schreien können. Nun wollte er seine Sinfonie schreien lassen, denn vielleicht, auch wenn Nina es nicht glauben würde, war Musik doch ein Mittel, das Böse bloßzustellen und also, sozusagen, etwas zu bewirken (wäre es doch so!); natürlich werden die wenigsten mir beipflichten, aber die Partei ist auf meiner Seite. Und so würde er die Blechbläser trotzig jaulen, die Holzbläser verzweifelt schluchzen lassen. Warum auch nicht? Es gab nichts, das sich nicht in Musik verwandeln ließ! Die Sirenen der Sturzkampfbomber illustrierten zum Beispiel die Idee des Portamento, womit man, wie wir wissen, das Gleiten von einer Note zur anderen auf einem Holzblasinstrument bezeichnet … Tief in der Nacht erklang das helle Insektensurren der nahenden Bomber, dann röhrten die Flakgeschütze, bis die Wohnung erzitterte, und schließlich pfiffen und explodierten die Bomben selbst, dann das Geräusch des splitternden Glases, die Schreie, o Gott, Galja und Maxim weinten in Ninas Armen.
    Aber jetzt war Nina beim Einsatz im Zivilschutz. Ihre Mutter kümmerte sich um die Kinder. Er schrieb sieben oder acht Arrangements für Frontkonzerte …
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    Er meldete sich freiwillig zur Volksmiliz. Nina schrie auf, als sie davon hörte.
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    Nach dem ersten verwunderten Blick auf diese runde Brille, dieses von dunklem Haar umrahmte blasse Schuljungengesicht, den winzigen, leicht weibischen Mund wussten unsere Parteiaktivisten sehr genau, dass er binnen einer Woche tot wäre, wenn sie ihn an die Front schickten. Wäre er sonst jemand gewesen, irgendein lebender Leichnam, es wäre ihnen egal gewesen. Aber schon damals war seine 7. Sinfonie im Gespräch. Die kapitalistischen Intellektuellen mochten ihn. Jetzt brauchten wir die Kapitalisten. Wir brauchten sie, damit sie die Zweite Front eröffneten.
    Verschwende nicht unsere Zeit, sagten sie. Was willst du?
    Ich, ich, na ja, nur im Kampf können wir die Menschheit vor dem Untergang bewahren …
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    Seht ihn euch an! Das glaubte er wirklich!
    Gerade so wie man jetzt viele nach Paragraph 58 verurteilte »Politische« aus den arktischen Gefangenenlagern freiließ, um sie gegen den Faschismus kämpfen zu lassen, kehrte man nun, wie Schostakowitsch beobachten konnte, seine künstlerischen Fehler von einst unter den Teppich. Höflich teilte man ihm mit: Du wirst an die Front gerufen, wenn du gebraucht wirst.
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    Natürlich musste er eine Rede halten und sich dankbar zeigen, dass man ihm seine zahllosen Irrtümer vergab. Und wahrlich, er tat es, wobei er seltsam mechanisch mit dem Kopf ruckelte. (Ein unheiliges Leuchten über dem Gostiny Dwor löste sich auf in neue Leichen und eine Wand aus Rauch.) Nie wieder Formalismus, versprach er. Er versicherte allen: Musik ohne Ideologie kann es nicht geben, Genossen! Musik ist kein Selbstzweck mehr, sondern, wie soll ich sagen, eine entscheidende Waffe im Kampf. Und ich, nachdem ich meine, Sie wissen schon, volksfeindlichen Tendenzen überwunden habe …
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    Als er sich überzeugt hatte, dass diese Worte nichts waren als die Artikulation des Lungendrucks mit der Zungenspitze bei einem Blasinstrument (Flatterzunge nennt man das), lieferte er seinen Auftritt ab, allegro, und versuchte dann, ihn zu vergessen. Nina war lieb oder
müde genug, ihm keine Fragen zu stellen. Sie gingen überhaupt nicht hart mit ihm ins Gericht. Sie hatten viel Wichtigeres zu tun, als einen gewissen D. D. Schostakowitsch zu zermalmen …
    Er wurde einberufen. Zuerst hob er Panzerabwehrgräben aus, wie es Heidegger bald in Deutschland tun würde. Er gehörte zur Schaufelbrigade des Konservatoriums. Manchmal arbeitete er im selben Graben wie der Direktor der Eremitage. Wie abgeschlagene Köpfe an Leitungen baumelnd, riefen die Lautsprecher alle Artikel der Stalin-Verfassung aus. Wenn doch nur Gogol noch leben und eine Satire daraus machen würde! Dann wäre die Erfahrung sicher viel, Sie wissen schon. Ich fühle mich nicht sehr ermutigt. Im Grunde ist das alles wirklich, nun ja. Als er seinen Musikerkollegen zusah, wie sie die Ärmel und Hosenbeine ihrer Anzüge aufrollten (ihre einzige Arbeitskleidung) und dann mit viel Eifer und Ungeschick anfingen, Erde zu schaufeln, dachte er bei sich: Wenn sie Tuchatschewski nicht

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