Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
Tonnen verbrannter Zucker. Er hatte Musik für die wichtigste Sache der Welt gehalten, aber nun wurde ihm klar, dass er fast alles tun würde, sogar seine Begabung aufs Spiel setzen, um Leningrad zu helfen, einst als Petrograd bekannt, davor als St. Petersburg, als Stadt des Periodensystems – Stadt Glinkas, Mussorgskis, Tschaikowskis, Strawinskis, Prokofjeffs, Schostakowitschs! Er schrieb schlechte Musik? Und wenn schon! Nein, er würde nie … Sie konnte seine Musik bleiben und dabei gleichzeitig auch etwas sein, das ihnen von Nutzen war, ein aufrichtiges und großzügiges Geschenk. Kurz, wenn sie Programmmusik wollten, sollten sie Programmmusik bekommen. Er würde trotz allem etwas Gutes daraus machen. Zweckmäßig und wirkungsvoll, das war es, was sie wollten; nun gut, entschuldigen Sie, wenn ich das sage, aber er liebte Leningrad wirklich, was sie mit dieser Sinfonie also auch bekommen würden, war, nun ja, Leningrad.
    Lew Oborin, der sehr müde wirkte, kam unangekündigt auf eine Stunde vierhändigen Klavierspiels vorbei. Er lächelte; nicht nur hatte er fünfhundert Gramm Pferdewurst aufgetrieben, wir hatten auch eben Kalinin befreit! Galja sprang herum und kreischte: Kalinin, Kalinin! Sie hätte eigentlich längst im Bett sein müssen. Und sie wurde diesen Husten nicht los, den »Leningrader Husten«, wie man ihn nannte. Kalinin, dann komponiere ich jetzt also ein … Was ist das für ein Geräusch? Oh, das ist nur … Außerdem, berichtete Oborin, hatten wir in Leningrad jetzt einen Weg über den zugefrorenen Ladogasee geöffnet; Flüchtlinge verließen die Stadt, Lebensmittel kamen herein, wenige, nicht genug, und manchmal gerieten unsere Lastwagen unter Beschuss, aber Schostakowitsch staunte über den Stolz und die Hoffnung, die er empfand, als er in der Prawda die Bestätigung las. Jahre später, als er nach Leningrad zurückkehrte, nur auf Besuch (er zog nie wieder dorthin), erzählten ihm seine Freunde, die Menschen hätten einander manchmal vor den Bäckereien das Brot aus der Hand gerissen, aber meistens seien sie still verhungert. Sehen Sie, auch sie wollten keine Kompromisse machen. Und als er das hörte, wurde er, nun ja, sentimental.
    Auf dem Piskarjowskoje-Friedhof gab es jetzt viele neue Gemeinschaftsgräber. Im Dezember wurde es schlimmer. Manche rechneten sich aus, dass in diesem Monat täglich sechstausend Menschen starben; andere sagten, es seien vier – oder zehn. Niemand hatte noch die Kraft zu zählen. Wie reife Birnen, die vom Baum fallen, kippten gefrorene Leichen aus den Fenstern auf die verschneiten Straßen. Es hieß, dass täglich Kannibalen herumirrende Kinder töteten; den auf dem Friedhof liegengelassenen Leichen wurde das Bratenfleisch aus Schultern, Schenkeln und Hinterbacken geschnitten. Am 17. Dezember wurde im Radio verkündet, dass unter General Merezkow die Wolchowfront aufgestellt worden sei, aber nicht einmal dem Ansager gelang es, hoffnungsfroh zu klingen. Und nun wieder das Ticken des Metronoms; mehr zu senden fehlte Leningrad die Kraft. Immer weiter wurden die Kinderschlitten zum Friedhof gezogen, mit toten Kindern darauf. Poeten brachen zusammen und starben an der Strapaze, am Mikrofon von Radio Leningrad zu stehen und ihre Verse vorzutragen. Dann kam wieder das Metronom. Deshalb wollte er seine Sinfonie nicht aus Musik bauen, sondern aus Schnee und Explosionen.
    Sie ist fast fertig, sagte er seiner Frau.
    Dann hast du etwas Großes geleistet. Und du wirst mir alles sagen, was du gedacht hast, oder zumindest deine Musik wird es tun. Du hast so viel zu sagen und redest nie mit mir.
    Aber das liegt am Krieg, Ninotschka, nur am Krieg. Und Maxim belegt dich ständig mit Beschlag …
    Ich weiß, Liebling. Nach dem Krieg werden wir offener zueinander sein …
    Mach uns keine Illusionen.
    Er lehnte sich aus dem Fenster und hörte zwei betrunkene Rotarmisten Blanters Lied »Im Wald an der Front« grölen.
    36
    Anfang Dezember gewannen die Verteidiger Moskaus die Offensive zurück und drängten den Feind langsam ab; aber die Belagerung Leningrads wollte nicht enden. Dreißig Grad minus, wärmer wurde es dort nicht; so hörte er. Er versuchte, nicht zu, zu, Sie wissen schon. Im Herzen sah er das Konservatorium, himbeerfarben, vergoldet, weiß. Dort musste seine Sinfonie aufgeführt werden, ihm und, wie er hoffte, ihnen zuliebe. Gellende patriotische Parolen, verwundete Rotarmisten, die in ihren Schützenlöchern hockten und hofften, nur einen deutschen Faschisten noch

Weitere Kostenlose Bücher