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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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späteren Jahren weinten die Moskowiter und Leningrader bei den Uraufführungen seiner »Todessinfonien« in Scharen, und ebenso weinte Elena, wenn er mit ihr schlief; sie schluchzte vor fröhlicher Lust, jaulte vor Liebe und schrie dann auf, und ihr Schrei war ein seltsamer, vom Ton His dominierter Akkord, und er wurde sein Schatz, den er ehrfürchtig in seinem ergrauenden Herzen hütete und dem er nie erlauben würde, in seiner Musik zu leuchten. Eines Dezemberabends mitten in den Nachkriegsjahrzehnten, als Lebedinski es, angetrunken, wagte, ihn
zu fragen, was er nur so sehr an ihr liebe, gedachte er vielleicht dieses Akkordes, dieses geheimen, herrlichen Lautes, als er antwortete: Wer Ohren hat, höre. Vielleicht war es aber auch einfach so, dass sie es war, die er meinte; sie blieb im Innersten der Seele und würde dort für immer bleiben, Zeichen seiner Jugend, Kraft und Tapferkeit, um nicht von der Tugend zu sprechen, von der er sich losgesagt hatte, seiner verglimmenden prähistorischen Weihe. Wer Ohren hat, höre. Sinnlos, darüber nachzudenken! Und gerade weil hören wird, wer Ohren hat, wollte er sichergehen, dass jeder einzelne Abschnitt jedes einzelnen Satzes so sicher verschanzt war wie eine Stellung der deutschen Faschisten. Sie brauchten seine Sinfonie unverzüglich, gerade so wie sie die neuen Katjuscharaketen brauchten. Ob er Kurs halten konnte? Warum nicht? Sie hatten ihn im Voraus dazu abkommandiert, die Proben des Tanz- und Gesangsensembles des NKWD zu leiten. Mittlerweile waren ihm seine beiden Koffer verlorengegangen; A. I. Chatschaturjan musste ihm ein paar von seinen Anziehsachen leihen. Dann verlor er auch die Partitur der Siebten, die Nina in eine Steppdecke gewickelt hatte, aber W. J. Schebalin fand sie für ihn. Er vergaß zu essen; er machte sich Sorgen um seine Mutter. Nina bettelte D. B. Kabalewski einen Räucherfisch ab, was ihm nie gelungen wäre, schüchtern wie er war; sein Leben lang bat er nur für andere; und als er daran kaute und geistesabwesend die Gräten schluckte, sagte er: Weißt du, Ninotschka, ich bin mir nicht ganz sicher, aber da Isaak Dawidowitsch … – Du willst zu ihm nach Taschkent, sagte Nina platt und laut, so dass alle es hören konnten. Du willst zu ihm nach Taschkent, weil dort deine andere Frau mit offenen Armen und Beinen auf dich wartet, weshalb mir unklar ist, was ihr Mann an ihr findet; aber er ist ja oft weg, nicht wahr? Vielleicht willst du einfach vor ihrem Fenster nach ihr schmachten, aber das hat sowieso einen Verdunklungsvorhang, also wozu die Mühe? – Am 22. Oktober erreichten sie ihren Zufluchtsort, benannt nach dem gemäßigten Genossen Kuibyschew aus dem Politbüro, dessen mysteriöse Herzkrankheit dem Genossen Stalin 1935 so gelegen gekommen war. Der Zug kam zum Stehen und wiederholte den Klang der halb abgewürgten Geige des ersten Satzes. Ein Bettler mit einem Bariton sang ein Lied auf unsere Rote Armee.
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    Das schneeweiße Leuchten einer Lampe, der blasse, aufgedunsene Widerschein seines Schattenrisses auf dem Klavierdeckel, seine Partitur, die glühte wie ein Lichtstrahl, der lange weiße Kieferknochen aus Klaviertasten, der zu ihm sang, wenn er ihn liebkoste, das war der Lauf seiner Welt, in ihrem labilen Gleichgewicht geschützt von klobigen, kleinen Bombern mit roten Sternen an Rumpf und Leitwerk, die immer größere Kreise zogen, zwölf Flugzeuge hatte eine Schwadron, drei Schwadronen ein Regiment, vier Regimenter eine Division, zwei Divisionen ein Korps.
68 Die Kinder schliefen. Nina trat ans Klavier und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er blickte aus dem Fenster.
    Seit der Ankunft der Faschisten war die Kälte zwischen ihnen nicht mehr wichtig, vielleicht war es also gar keine Kälte mehr, diese Dissonanz, diese chemische Unverträglichkeit; sie stritten sich kaum noch, aus genau demselben Grund, aus dem sie fast nie miteinander schliefen; die Not war zu groß, und Leningrads Todeskampf kühlte beiden die Selbstsucht und den Zorn.
    Im November verhungerten in der Stadt zwischen zwei Sonnenaufgängen dreitausend Einwohner. Inzwischen waren die Rationen zum fünften Mal gekürzt worden. Moskau ging es natürlich auch schlecht … Verfolgt von Gedanken an seine Mutter, wie sie auf der Suche nach Wasser ein Loch in die gefrorene Straße hackt, an glotzäugige Kinder und wirr gewordene alte Damen, verschlang er gierig halb geheime Statistiken, bedeutungslos und längst überholt: dreihundert Sperrballons, neunhundert

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