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töten zu können. Das schrieb er in den dritten Satz ein, unter die Bodendielen sozusagen, wo seine Akkorde wie Scharfschützen zielten und schossen, bevor das Ohr auch nur wusste, dass sie überhaupt dort waren. Kosaken mit geschwungenen Säbeln warfen sich in den Kugelhagel. Wohnungen wurden zu Bühnen, viel avantgardistischer als die schon lange verbotenen Theaterproduktionen von Meyerhold und Schostakowitsch, Mauern und Körper wurden aus Schlafzimmern geschnitten, ohne ein Stück Nippes zu verrücken; Frauen und Kinder hielten sich dort versteckt und warteten darauf, vom bitteren Frost niedergestreckt zu werden. (Ihre Männer waren an der Front.) Eingemummelte Frauen krochen bäuchlings zwischen eingefrorenen Straßenbahnwaggons durch den Schnee, in der Hoffnung, eine gefrorene Ratte oder einen Krumen Ölkuchen zu finden, um genug Kraft zum Aufstehen zu haben. Schostakowitsch konnte ihnen nicht mehr geben als seine Sinfonie, deren vierter Satz so glänzend schillerte wie die ver
nickelten Türgriffe am Automobil des verstorbenen Marschalls Tuchatschewski.
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Die letzte Note der 7. Sinfonie wurde am 29. Dezember 1941 geschrieben, im faden, überfüllten Kuibyschew. Im Radio erklärte der Genosse Stalin ganz langsam: Tod den faschistischen deutschen Invasoren. Tod, Tod, Tod. Und Schostakowitsch erhob sich vom Klavierhocker. Einige seiner Gönner, die gleichen, die sich fragten, warum noch kein Porträt des Genossen Stalin über seinem Klavier hing, rieten ihm zu verschiedenen Änderungen am Finale, die einander alle widersprachen und die er alle in die 8. Sinfonie aufzunehmen versprach. Nina lief auf die Toilette, damit niemand merkte, dass sie lachen musste; er hörte, wie sie das Wasser aufdrehte. Wieder forderten sie ihn auf, in die Partei einzutreten, weil dies der Siebenten erlauben würde, von einer breiteren Masse verstanden zu werden. Und der Genosse Alexandrow sagte … Er gab zurück, er wolle es erwägen. Vielleicht wenn er ein genaueres Verständnis des, des, Sie wissen schon, Leninismus … Er war wieder obenauf; er konnte sie ewig hinhalten! Und außerdem hatten sie von einem größeren Triumph zu berichten: In Leningrad war eben die Brotration verdoppelt worden.
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Am 5. März 1942 wurde die Uraufführung im Radio übertragen. Obwohl das Konzert in Kuibyschew stattfand, tat der Ansager befehlsgemäß, als wäre er im Bolschoi-Theater in Moskau. (Anderen Quellen zufolge war der Ort der Uraufführung Nowosibirsk.) Wir sehen Schostakowitsch nervös und mit übereinandergeschlagenen Beinen in der sechsten Reihe sitzen, die Arme krampfhaft verschränkt, fest in seinen Anzug gewickelt, die dunkle Krawatte beinahe unsichtbar, nichts als Lichtreflexe auf den runden Gläsern seiner Brille. Die Notenständer des Orchesters sehen auf diesem Foto aus wie schillernd eingerahmte Leere; sie könnten ebenso gut die Blitze detonierender Bomben sein. Daheim, in der Wilonowskistr. 2a, hockt Nina mit den Kindern und Nachbarn zusammen und lauscht in völliger Stille. Sie weiß, dass Glikmann und die anderen Angehörigen des Leningrader Konservatoriums in Taschkent zuhören. Sie geht davon aus, dass auch Elena Konstantinowskaja zuhört. Jetzt kommt das Rattenthema; bei der fünften Wie
derholung hört sie deutsche Panzer eine Flussböschung heraufbranden. Seltsam, aber wahr: An den meisten Tagen, in den meisten Nächten gar trägt sie der anderen Frau nichts nach. Hat die Rivalin Mitja nicht glücklich gemacht und sogar seine Musik beflügelt?
Nina kennt ihren Gatten besser, als Elena es je könnte. Sie kennt seine Egozentrik, seine hässliche Boshaftigkeit, seinen Narzissmus. Elena kennt nur seinen Penis. Sie mag glauben, sie kenne sein Genie, aber das tut niemand, nicht einmal Mitja selbst; er weiß nicht einmal, was ihn glücklich macht! Er ist sich seiner selbst im Grunde nicht sehr bewusst. (Gerade zündet er sich die nächste Kasbek-Zigarette an.) Wenn er zum Beispiel ganz in Elenas Parfüm eingehüllt nach Hause kam, war ihm völlig unbewusst, dass sie etwas merkte. Und wenn Nina selbst fremdging, fiel ihm nicht das Geringste auf! Einmal hatte er einen dunkellila Knutschfleck am Hals; tagelang kratzte er daran herum. Mitja, du geistesschwaches Kind, wenn ich dich doch nur beschützen könnte … Kurz, er braucht Nina viel dringender, als ihm bewusst ist, und deshalb ist sie zu allem bereit. Mitja natürlich – denn das wäre jedermanns Pflicht gegenüber der Gesellschaft, um der Kunst willen –
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